Vortrag am foraus-Seminar im Murten am 5. November 2011
Die historische Entwicklung der Beziehungen der Schweiz zu Europa
Ich freue mich, über ein Thema, mit dem ich mich lange und intensiv auseinandergesetzt habe, vor einem jüngeren und zugleich fachkundigen Publikum zu sprechen. Zur Geschichte der Beziehungen Schweiz – EU (oder wie immer dieses Gebilde eben früher hiess). Ich denke, dass der Ausspruch „Zukunft braucht Herkunft“ immer noch seine Gültigkeit hat, oder anders gesagt: die Kenntnis der Geschichte birgt zwar nicht schon die Lösungen für aktuelle Probleme, aber sie kann davor bewahren, solche in einer völlig falschen Richtung zu suchen.
Die Geschichte ist nicht deterministisch, und eine neue Zeit verlangt neues Denken. Aber trotzdem: Es steht nie steht alles zur Disposition. Es gibt Pfadabhängigkeiten und frühere Weichenstellungen, welche man nicht ungeschehen machen kann. Es gibt eine zeitliche Verkettung der Entscheide und Ereignisse, welche den heutigen Akteuren oft geringere Spielräume lässt, als ihnen lieb ist. Und es gibt drittens Prägungen unseres kollektiven Bewusstseins, welche sich nur allmählich neuen Gegebenheiten anpassen. Wie oft schon haben uns die Politik und die Wissenschaft dargetan, wie viele und welche Alternativen wir in der Europapolitik hätten. Doch bei Lichte besehen hatten wir meistens keine, der Weg war weitgehend vorgegeben. So ist es auch jetzt.
Natürlich habe ich bei meinen Erkundungen der Vergangenheit versucht, möglichst objektiv an den Stoff heranzugehen. Doch sobald man eine Geschichte gut erzählen will, muss man auswählen, den einen Aspekt mehr und den andern weniger betonen, mit Vor-Urteilen an den Stoff herangehen, die in der Wissenschaft Theorien und Methoden heissen. Es wird einem bewusst, dass man aus seiner eigenen Zeitsicht nie ganz heraustreten kann, dass man eben doch die Geschichte auf die Gegenwart bezieht und durch die heutige Brille betrachtet. Das merkt man nicht zuletzt daran, dass der Fortgang der Ereignisse dazu führt, frühere Einschätzungen zu korrigieren, auch wenn sich an der Datenlage nichts geändert hat. Oder wie Heraklit meinte: „Wer in dieselben Flüsse hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser zu.“ Und, so füge ich an, wenn er wieder herauskommt, ist er nicht mehr derselbe.
Steigen wir also in den Fluss der Geschichte. Was soll ich Ihnen erzählen aus den über 400 Seiten meines Buches und aus den nochmals einhundert, welche für die letzten drei Jahre anzufügen wären? Sicher keine lückenlose Chronologie, damit würde ich Sie nur langweilen. Ausgewählte Kapitelchen also. Doch welche? Solche, welche besonders geeignet sind, die heutige Situation zu erhellen, und solche, welche einen Einblick in die Arbeit des Amateurhistorikers geben. Ein solcher bin ich nämlich: Einer, der es aus Liebe tut, das Forschen. Aus Liebe zur Schweiz? Auch das.
1. Kapitelchen: Krieg und Frieden oder unterschiedliche Ausgangspunkte
Welchen Weg man einschlägt, hängt nicht nur vom Ziel, sondern auch vom Ausgangspunkt ab. Das ist trivial, wird aber bei der Europapolitik gelegentlich vergessen.
Wie jede Geschichte der Europäischen Integration beginne ich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dies tue ich nicht aus reiner Konvention, sondern deshalb, weil diese schrecklichen Ereignisse für die Schweiz völlig andere Konsequenzen hatten als für die meisten andern Länder Europas.
Die Schweiz gehörte weder zu den Siegern noch zu den Besiegten. Die Sieger und die Besiegten verband, dass sie fürchterlich unter dem Krieg gelitten hatten und dass daraus die Überzeugung erwachsen war, die Ursachen dafür seien ein für allemal zu beseitigen. Nun, zwar traf an diesem bisher letzten grossen europäischen Krieg eine Hauptschuld Deutschland, die Nationalsozialisten und Hitler. Doch wenn man sich die vergangenen zweihundert Jahre anschaute, dann war wohl der Nationalismus eine der Haupttriebkräfte des Bellizismus in Europa und in den Kolonien. Deswegen war es für die meisten Menschen, die über das Europäische Schicksal nachdachten, klar, dass der Nationalismus überwunden werden musste. Das hätten man auch national anpacken können, doch die Meinung überwog – speziell mit Blick auf Deutschland – man müsse dies durch einen neuen, übergreifenden politischen Verband sicherstellen, welcher die staatliche Souveränität beschnitt – so wie es Kaiser und Papst früher getan hatten. (Ich hoffe, sie denken jetzt nicht an Merkel und Sarkozy!).
Dieser Gedanke realisierte sich bald darauf in der supranationalen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Deren ursprüngliche Zusammensetzung spiegelte diesen Sachverhalt wieder: Zuerst waren es die sechs, welche vom Krieg am härtesten getroffen worden waren: Frankreich, Benelux, Italien und Deutschland, das heisst die Bundesrepublik. Die Opfer weiter im Osten – Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und andere – hätten sich zweifellos angeschlossen, wenn Stalin sie gelassen hätte. Auch das Täter-Opferland Österreich blieb nicht aus eigenem Willen draussen. Und dass man Griechenland fünf Jahre vor Spanien und Portugal aufnahm, hat ebenfalls damit zu tun: Besetzung durch die Achsenmächte.
Anders die Schweiz. Sie hatte unter dem Krieg auch gelitten, aber unvergleichlich viel weniger stark. Ihre Wirtschaft war intakt, sie konnte liefern, was die andern brauchten, sogar gegen Kredit, und sie hatte eine konvertible Währung. Der ideologische Kampf gegen den Faschismus, die Geistige Landesverteidigung und die Auffassung, die Neutralität und die Armee hätten das Land vor einem Überfall bewahrt, führten dazu, dass die Schweiz als Nation am Ende des Krieges stärker und geeinter war denn je zuvor. Überwunden die Klassengegensätze, überwunden die Spannungen zwischen den Konfessionen, überwunden alle Röstigräben. Nie wurde, ich kann das aus eigener früher Erfahrung bezeugen, der 1. August inbrünstiger gefeiert als damals. Ohne rot zu werden sang man:
Da wo der Alpenkreis
Dich nicht zu schützen weiss
Wall dir vor Gott
Stehn wir den Felsen gleich
Nie vor Gefahren bleich
Froh noch im Todesstreich
Schmerz uns ein Spott!
Dass die Alliierten die Schweiz wegen ihrer Absenz beim Kampf gegen Hitler – und noch aus einigen weiteren Gründen – arg kritisierten, liess das Volk noch enger zusammenstehen. Der sich daraus ergebende Antiamerikanismus war einer der Gründe für den Nichtbeitritt zur UNO. Dass man die Nation schwächen müsse, klang in Schweizer Ohren absurd. Sollten sich doch die andern zusammenschliessen – aber bitte ohne uns!
Ist das heute noch relevant? Irgendwie schon. Wir setzten uns damals auf ein anderes Gleis als die Nachbarn. Daraus sind andere Erfahrungen erwachsen, und daraus wieder andere Entscheide. Und deshalb sehen wir auch heute die Welt etwas anders. Pfadabhängigkeiten laufen auch über Bewusstseinsprozesse. Und ausserdem: Solange die EU bei jeder Gelegenheit, bei der es was zu feiern gibt, den Zweiten Weltkrieg beschwört und das Friedensprojekt, ist es der Schweiz nicht zu verdenken, wenn sie auf ihre andersartige Erfahrung rekurriert.
2. Kapitelchen: Splendid isolation und die Fehlstartthese
Aus dieser Situation ergab sich logischerweise eine grosse Zurückhaltung bei der Beteiligung an internationalen und vor allem supranationalen Organisationen: Weder UNO noch Bretton Woods noch GATT, weder Europarat noch NATO. Einzig bei der OEEC – das war die Organization for European Economic Cooperation – machte man eine Ausnahme, denn hier ging es um Wirtschaft und um Marktöffnung. Doch auch in diesem Fall hatte der Bundesrat lange mit sich gerungen: War die OEEC nicht auch von den USA initiiert worden? War nicht der antikommunistische Aspekt dominant? War eine Mitgliedschaft mit der Neutralität verträglich? Und welchen Einfluss hatte sie allenfalls auf die eben erst wieder aufgenommenen diplomatischen Gespräche mit der Sowjetunion? Man kam zu einem „Ja, aber“, und eine spezielle Schweizklausel sollte die neutralitätspolitische Unbedenklichkeit sichern.
Aus dieser Auseinandersetzung ergaben sich – unter der Federführung des Vorsteher des Politischen Departements Max Petitpierre – die Prinzipien von 1947: a) Die Neutralität hat immer Vorrang. b) Die Schweiz akzeptiert nur Beschlüsse internationaler Organisationen, die sie mitgetragen hat. c) Die Treaty-making power in Handelssachen darf nicht eingeschränkt werden. Das hiess: Die Schweiz beteiligt sich zwar an ökonomischen, technischen und humanitären Organisationen, nicht jedoch an politische oder sicherheitspolitischen. Und da supranationale Organisationen diese Grundsätze verletzten, hielt man zu ihnen grossen Abstand. Diese Doktrin hat die Aussenpolitik für lange Zeit angeleitet – vielleicht bis heute: Die Neutralität ist nach einem leichten Schwächeanfall wieder erstarkt; wenn wir nicht Mitbestimmen können, wollen wir keine automatische Rechtsübernahme; und die handelspolitische Freiheit geht uns immer noch über alles.
Diese Festlegungen hatten übrigens noch eine weitere Konsequenz: Das Politische Departement (heute EDA) überliess die Europapolitik weitgehend dem Volkswirtschaftsdepartement, und hier wiederum wurde die Handelsabteilung federführend. Da sie weitgehend in eigener Regie die Abstimmung mit dem Vorort des Handels- und Industrievereins (heute economiesuisse) übernahm – und zwar in der berühmten „Ständigen“ (Wirtschaftsdelegation) –, stieg dieses Amt (später BAWI, heute, unter andern Sternen, SECO) zum wichtigsten aussenpolitischen Akteur auf. Es wurde zum Office de la couronne unter heute noch bekannten Chefs wie Hans Schaffner, Paul Jolles, Cornelio Sommaruga oder Franz Blankart .
1951 wurde die erste Gemeinschaft, die Montanunion, von den schon genannten sechs Staaten gegründet. Der Anlass war, dass die Bundesrepublik die Souveränität zurückerlangt hatte und damit das Ruhr-Statut, welches den Alliierten die Kontrolle über Kohle und Stahl in Deutschland sicherten, obsolet wurde. Um diese Kontrolle dennoch aufrecht zu erhalten, erfand Jean Monet – der französische commissaire général du plan – die supranationale EGKS. Er wurde deren erster Chef.
Wie die meisten andern europäischen Staaten hatte die Schweiz kein Interesse. Allerdings musste sie sich vorsehen, dass ihre Kohle- und Stahlimporte aus dem Raum der Montanunion nicht beeinträchtigt wurden. Sie schloss deshalb schon 1956 ein bilaterales Konsultationsabkommen mit der Montanunion ab. Wir feiern also heuer den 55. Geburtstag des Bilateralismus! Herzlichen Glückwunsch!
Ich gebe Ihnen nun einen kleinen Einblick in einen interessanten „Historikerstreit“. Nach der Ablehnung des EWR 1992 entstand unter Geschichtsforschenden eine Diskussion über die Nachkriegszeit, welche als „Fehlstartthese“ einen kurzen Frühling erlebte. Es war die Auffassung, man hätte damals alles falsch gemacht, die Schweiz in die Isolation getrieben, die politische Dimension des neu entstehenden Europas verkannt und fälschlicherweise auf den Bilateralismus gesetzt. Von da führe eine gerade Linie zur als tragisch empfundenen Zurückweisung des EWR. Eine ähnliche These hatte übrigens Herbert Lüthy schon 1964 vertreten. Sie wurde nun am Historikertag 1995 wieder aufgewärmt.
Daran ist so ungefähr alles falsch. Gerade Linien sind in der Geschichte selten, und inzwischen war die Schweiz immerhin dem GATT, dem Europarat, der KSZE, den Bretton Woods Institutionen und vielen weiteren internationalen Organisationen beigetreten. Sie war keineswegs isoliert, sie hatte nur einfach den EWR abgelehnt – eine Organisation mit schweren Geburtsgebrechen.
Zweitens machte diese These den für Historiker erstaunlichen Fehler, eine frühere Zeit unter dem Wissensstand einer späteren zu betrachten und zu bewerten: In der Nachkriegszeit hatte die integrale Neutralität eine derart breite Unterstützung im Volk und in den Parteien, dass eine anders gelagerte Politik für den Bundesrat schlicht nicht im Bereich der Handlungsmöglichkeiten lag. Petitpierre hatte vorübergehend ein wenig an dieser Auffassung gerüttelt, stiess aber auf starken Widerstand und bekehrte sich rasch zur Orthodoxie.
Drittens fällt die Fehlstartthese auf die von Frankreich genährte Geschichtsklitterung herein, in der EGKS sei die ganz spätere europäischen Integration schon in Nuce enthalten gewesen, und wer dabei nicht mitgemacht habe, habe die Zeichen der Zeit verkannt. Wenn man die etwas traurige Geschichte der Montanunion genauer anschaut, und insbesondere Monets Beharren auf weiteren sektoralen Organisationen (Atom, Landwirtschaft), und wenn man bedenkt, dass die Initiative für die weit liberalere und umfassende EWG von den Beneluxstaaten ausging und von Deutschland gegen den Widerstand Frankreichs durchgesetzt wurde, wird man den Beginn des fortlaufenden Integrationsprozesses doch eher auf 1958 legen.
Und viertens: Es ist richtig, dass sich die Schweiz jederzeit vor allem für die wirtschaftlichen Aspekte der Integration interessierte, aber nicht – wie die Fehlstärtler geglaubt haben – weil sie den politischen Charakter dieses Prozessen verkannte, sondern umgekehrt, weil sie ihn nur allzu deutlich erkannte – und eben ablehnte.
3. Kapitelchen: Misslungene Annäherungsversuche und was man daraus gelernt hat
Misslungen sind dann in den späten fünfziger Jahren allerdings verschiedene Annäherungsversuche an die EWG. Daran aber war die Schweiz nicht der Hauptschuldige. Neu und beachtenswert ist, wie stark sie nun mit andern Staaten zusammen agierte – insbesondere mit Grossbritannien, aber auch mit den neutralen Ländern Schweden und Österreich. Oft wurde sie auch zur Vorreiterin. Die Isolation also war abgeblasen.
Ich hatte gesagt: So richtig los ging es mit der Integration 1958, mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Dies war ein umfassender wirtschaftlicher Zusammenschluss, basierend auf einer Zollunion und mit dem Ziel, die Märkte für Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital völlig zu öffnen – etwas noch nie Dagewesenes zwischen souveränen Staaten. Man sprach in den folgenden dreissig Jahren nur noch vom „Gemeinsamen Markt“, „marché commun“, „common market“.
Das passte natürlich den Nicht-Sechs nicht, sie hätten lieber im Rahmen der OEEC eine umfassende Freihandelszone verwirklicht. Das UK und die Schweiz wurden gemeinsam in diese Richtung aktiv, und es gab durchaus Sympathien für diesen Plan in Deutschland und den Niederlanden. Ökonomisch gesehen wäre dies auch das sinnvollere Vorgehen gewesen, denn die EWG drohte sich gegen aussen abzuschotten. Doch de Gaulle und Adenauer gewichteten die politische Integration höher als die marktwirtschaftliche Effizienz, und sie setzten die EWG durch – allerdings erst nachdem die BRD Frankreich gegenüber verschiedene Konzessionen gemach hatte. Die schlimmste war wohl die Zustimmung zur Gemeinsamen Agrarpolitik. Die Parallelen zum Zustandekommen der WWU 30 Jahre später sind frappant: Auch Mitterand und Kohl einigten sich aus politischen Gründen gegen den Rat der meisten Ökonomen auf die gemeinsame Währung.
Nun war für die Schweiz Gefahr in Verzug, denn die relativ hohen Aussenzölle der neu gegründeten EWG würden zu einem echten Handelshindernis werden und Schweizer Firmen diskriminieren. Man könnte doch, so die Meinung der Nicht-Sechs, die Zollunion der EWG mit einer grossen Freihandelszone kombinieren. Doch dies wurde in Paris nicht goutiert, man sah darin den Versuch, die Gemeinschaft zu unterminieren. Sie würde sich in der Freihandelszone auflösen „wie ein Stück Zucker in einer Tasse englischen Tees“.
En attendant gründeten die sieben Länder ausserhalb der Gemeinschaft die kleine Freihandelszone EFTA. Auch hier wurden die Zölle zwischen den Staaten auf Null abgebaut, jedoch kein gemeinsamer Aussenzoll eingeführt. Das heisst auch, dass die Mitgliedstaaten im Gegensatz zu denen der EWG handelspolitisch unabhängig blieben.
Die EFTA verfolgte mehrere Zwecke: Für die Schweizer Handelsdiplomatie war ganz wichtig zu demonstrieren, dass eine Freihandelszone entgegen vielen Befürchtungen überhaupt funktionieren konnte. (Das Problem liegt bei den Ursprungsnachweisen.) Zweitens entstand so eine gewisse Gegendiskriminierung gegen die EWG-Länder. Drittens schlossen sich die sieben enger zusammen, um künftig der Gemeinschaft gegenüber eine bessere Verhandlungsposition zu haben. Da aber der Handel zwischen den sieben nicht sehr bedeutsam war, wurde die EFTA nie zu einer wirklichen Alternative. Der Tagesanzeiger bezeichnete sie als ein „Wartesaal für Verschupfte und Verschnupfte“. Erstaunlicherweise besteht sie heute noch.
Als man sich eben in der EFTA gemütlich eingerichtet hatte, kam der Schock: Das Vereinigte Königreich wollte 1961 plötzlich doch der EWG beitreten. Der Grund dafür war in erster Linie Kennedys neue atlantische Partnerschaft, für die er ein stärker integriertes Europa brauchte. Wieder brach in Bern Hektik aus, und, zusammen mit den neutralen Staaten Schweden und Österreich, suchte man nach Auswegen. Aus Brüssel wurde signalisiert, es gäbe da noch die Assoziation, eine quasi Beteiligung ohne echte Mitbestimmung, gedacht eigentlich für frühere Kolonien oder Länder wie die Türkei und Griechenland. Man studierte in Bern auch diese Variante ziemlich intensiv, was den positiven Effekt hatte, dass man die junge EWG ganz genau kennen lernte.
Doch bald zeigten sich unüberwindbare Hürden und Gefahren, und zwar in Form eines Bermudadreiecks von drei nicht miteinander kompatiblem Forderungen: ein homogener Wirtschaftsraum war mit der Entscheidungsautonomie der EWG und der Souveränität der EFTA-Staaten schlicht nicht vereinbar. Da Brüssel signalisierte, dass die ersten beiden Bedingungen nicht verhandelbar waren, blieben nur Einschränkungen der schweizerischen Souveränität. Als dies klar wurde, war die Schweiz dabei, sich aus diesem Projekt zu verabschieden, doch de Gaulle kam ihr zuvor: Er wollte das englische Pferd nicht in seinem kontinentalen Troja. Damit scheiterte die erste Erweiterung, und das Assoziationsprojekt wurde obsolet. De Gaulle wurde als „Befreier der Schweiz“ gefeiert.
Was an dieser Episode besonders bemerkenswert ist: 25 Jahre später kamen genau dieselben Probleme – das Bermudadreieck – beim EWR wieder hoch, und heute stehen wird bei den sogenannten institutionellen Fragen wiederum vor demselben Trilemma. Wir kommen darauf zurück.
Bis Ende der sechziger Jahre blieb die wirtschaftspolitische Spaltung Westeuropas eine schmerzliche Tatsache, allerdings gelindert durch den Zollabbau im GATT, an dem nun auch die Schweiz voll partizipierte.
4. Kapitelchen: Das Goldene Zeitalter des Freihandelsabkommens
Es war der Rücktritt de Gaulles, welcher die Integrationsblockade löste. Nun waren die Sechs zur ersten grossen Erweiterung bereit, 1973 traten das Vereinigte Königreich, Irland und Dänemark bei. Die Norweger sagten Nein. Und, die Gemeinschaft war soweit gefestigt und gestärkt, dass sie nun nichts mehr gegen Freihandel mit den kleineren europäischen Ländern einzuwenden hatte. Das gefiel der Schweiz, sie wurde sofort wieder aktiv und stellte sich an die Spitze des EFTA-Zuges. 1972 konnten zwischen der EWG und den Rest-EFTA-Staaten Freihandelsabkommen für Industriegüter abgeschlossen werden. In den folgenden Jahren wurden die Zölle auf Industriewaren auf null abgebaut.
Dieses Abkommen war nach dem Gusto der Wirtschaft, es läutete das „Goldene Zeitalter“ der Beziehungen Schweiz – EG ein. Es wurde, obwohl nur ein Handelsabkommen, vom Bundesrat ohne Notwendigkeit dem doppelten Mehr von Volk und Ständern unterbreitet und vereinigte 72,5% der Stimmen und das Ja sämtlicher Kantone auf sich! Die Regierung erhielt, was sie wollte: Einen Freibrief für den Bilateralismus.
Die Schweiz hatte in diesen Verhandlungen eine zentrale Rolle gespielt, denn sie teilte mit der Kommission die Auffassung, man solle sich nicht wieder auf komplizierte Assoziationsverhandlungen einlassen, sondern ein schlankes Freihandelsabkommen abschliessen. Ein solches machte auch gemeinsame Institutionen überflüssig und umschiffte so das Bermudadreieck. Also wurde dieses Abkommen mehr oder weniger zwischen der Kommission und der Handelsabteilung ausgehandelt und dann mit „copy/paste“ auf die andern EFTA-Staaten übertragen.
Aber dieses Vorgehen war natürlich nicht zum vorneherein klar, denn diese andern EFTA-Länder wünschten sich eigentlich umfassendere Abkommen, und auch in der Schweiz und gab es Kreise, welche eine stärkere Integration bevorzugt hätten. Die Schweiz galt deshalb also als Bremserin und Minimalistin, und sie musste aufpassen, nicht unverhofft von andern überholt zu wurde. Diesen Balanceakt hat Paul Jolles, damals Leiter der Handelsabteilung, mit einigem Geschick absolviert.
Zuerst versicherte er sich der Unterstützung des Bundesrates und des Vororts für seine Linie und liess nach aussen erkennen, die Schweiz wäre durchaus auch zu einem weitergehenden Abkommen bereit. Intern jedoch klang es in einer Orientierung der Ständigen vom 8. Juli 1970 wie folgt:
Angesichts dieser Sachlage glauben wir, gut daran zu tun, weiterhin auf einem umfassenden Abkommen zu bestehen. Es wird leichter sein, sich in den kommenden Gesprächen zurückdrängen zu lassen. (...) Auch würde der Kooperationswille der Schweiz bezweifelt und der Verdacht des «Rosinenpickens» verstärkt, wenn wir von Anfang an zu erkennen gäben, dass wir uns gerne mit einer minimalen Lösung zufrieden geben würden. Ferner wird der Bundesrat die bevorstehende Grundsatzdebatte in Parlament und Öffentlichkeit eher bestehen können, wenn er zeigt, dass nichts unversucht gelassen wurde, eine möglichst umfassende Lösung zu bewerkstelligen. Die Alternative wird sich dann klar herausschälen: entweder institutionelle, staatsrechtliche und vielleicht sogar neutralitätspolitische Konzessionen, um eine maximalistische Lösung zu erzielen, oder Festhalten an unseren Vorbehalten und Begnügen mit einer Minimallösung.
Dann baute Jolles noch eine Sicherungsschlaufe ein: Aus internen Papieren der Kommission wussten die Schweizer Diplomaten, dass für die EWG keinesfalls eine Mitsprache der EFTA-Trittbrettfahrer in Frage kam. Das konnte man taktisch ausnutzen. In einer Notiz an den Bundesrat schrieb der Chef der Handelsabteilung:
Nach bisherigen Sondierungen haben wir den Eindruck, dass seitens der EG eher die Bereitschaft bestehen würde, die Harmonisierungserfordernisse zu lockern, als ein Mitspracherecht zu gewähren; wir haben daher ein eminentes Interesse an der Aufrechterhaltung eines Junktims zwischen diesen beiden Fragen.
Sollte also doch eine weitergehende Integration aufs Tapet kommen – und dies beinhaltete, wie man aus den Assoziationsverhandlungen wusste, zwingend Harmonisierungen von Normen – dann würde man den Knüppel der Mitbestimmung aus dem Sack holen. Der Hochseilakt gelang.
Beobachter und Historiker aber waren bis unlängst der Meinung, der Bundesrat hätte damals mehr gewollt, aber nicht gekriegt. Die Jolles’sche Strategie hat also auch die inländischen Befürworter von mehr Integration „überzeugt“. Immerhin gab es ein Trostpfästerchen: Die Entwicklungsklausel des Art. 32:
„Ist eine Vertragspartei der Auffassung, dass der Ausbau der durch dieses Abkommen geschaffenen Beziehungen durch ihre Ausdehnung auf Bereiche, die nicht unter dieses Abkommen fallen, mit Interesse der Volkswirtschaften beider Vertragsparteien nützlich wäre, so unterbreitet sie der anderen Vertragspartei einen Antrag mit Begründung.“
Das bedeutet wenig mehr als nichts, denn Vertragsparteien sind ohnehin jederzeit frei, über neue Gegenstände zu verhandeln.
5. Kapitelchen: Binnenmarkt und EWR: Die Schweiz verschwindet im Bermuda-Dreieck
Die siebziger Jahre waren Krisenjahre – Dollarkrise, Erdölpreiskrise, Weltwirtschaftskrise. Die Motoren der europäischen Integration standen still. Ich lebte und studierte damals in Berlin, und ich staune heute noch, wie weit die Integration und die EWG aus unserem Blickfeld verschwunden waren. Sie waren schlicht kein Thema mehr.
Das änderte sich Anfang der achtziger Jahre. Die Gründe für die Redynamisierung der Integration sind bis heute umstritten, jede Schule hat ihre Version. War es der Aufschwung der Weltwirtschaft? War es die personale Konstellation Mitterand, Thatcher und Kohl? Oder war es der dynamische Kommissionspräsident Jacques Delors? Wie auch immer, als entscheidend erwiesen sich einmal mehr die wirtschaftlichen Aspekte des Projekts. Man stellte fest, dass der Gemeinsame Markt noch längst nicht verwirklicht war, und zwar deswegen, weil die meisten sogenannten nichttarifären Handelshemmnisse noch nicht weggeräumt waren. Das sind tausende von nationalen Vorschriften für Produkte, Menschen und Dienstleistungen, die – oft mit protektionistischer Absicht – als Handelbarrieren eingesetzt wurden.
Zwar hatte die Gemeinschaft die Kompetenz, Normen und Vorschriften zu vereinheitlichen, aber dies nur mit Einstimmigkeit im Ministerrat. Also lief jahrelang nichts. Es bedurfte nun einer kleinen aber äusserst folgenreichen Vertragsveränderung: zum Artikel 100 kam der Artikel 100a, der, falls es für die Verwirklichung des Binnenmarktes notwendig war, die qualifizierte Mehrheit bei der Harmonisierung einführte. In rasendem Tempo lief dann in den Jahren 1986 bis 1991 ein Harmonisierungstsunami über den Kontinent und schuf das, was man den Binnenmarkt nennt.
Einmal mehr bedeutete dies für die Schweizer Exporteure eine Diskriminierung, da die schweizerischen Normen ja nicht anerkannt wurden – selbst dann nicht, wenn unser Land sie unilateral anglich. Dies galt natürlich auch für die andern EFTA-Staaten, in welchen inzwischen Bewegungen entstanden waren, welche eine starke Annäherung an die EG oder gar einen Beitritte wünschten – so vor allem in Österreich und Schweden.
Doch die Gemeinschaft war in diesen Jahren auf Erweiterung nicht erpicht, sie wollte zuerst den Binnenmarkt vollenden und die Grundlagen für eine Währungsunion legen. Deswegen kam nun die Assoziationsidee wieder hoch. In der Schweiz war man von Anfang an skeptisch, denn die seitherigen mühsamen Verhandlungen zu einem Versicherungsabkommen hatten gezeigt, dass „Bermuda“ immer noch drohte. Man wollte eher versuchen, mittels sektoraler bilateraler Abkommen die gröbsten Hindernisse zu beseitigen.
Als dann Delors 1989 in einer Rede vor dem Europäischen Parlament davon sprach, man könnte ja eine Assoziation „avec des organes communs et de gestion et de décision“ ins Auge fassen, blieb der Schweiz nichts anderes übrig, als auf Drängen ihrer EFTA-Partner in entsprechende Verhandlungen einzuwilligen – auch wenn die alten Hasen der Handelsdiplomatie Delors’ Versprechen keinen Glauben schenkten. Ein Jahr später widerrief der Präsident.
Aus diesem Grunde wurden die EWR-Verhandlungen zu einem Parcours der Enttäuschungen, denn die „demandeurs“ mussten eine Position nach der andern räumen: Gemeinsame Organe, dauerhafte Ausnahmen, individuelles Opting Out, gemeinsamer Gerichtshof etc. Das déjà-vue zum Assoziationsprojekt der 60er Jahre war vollkommen, nur dass diesmal kein de Gaulle „halt!“ sagte und man den Vertrag bis zum bitteren Ende verhandelte.
Trotzdem, die Wirtschaft fand den Markzugang wichtiger als die institutionellen Mängel, und Economiesuisse war bereit, dafür zu kämpfen. Es wäre fast gelungen: Immerhin 49,7% Ja des Volkes, zwar 16 Kantone dagegen, aber ein Kantonsmehr kann rasch kippen, wenn man es richtig macht.
Aber, es hat nicht sollen sein, denn im Bundesrat sassen damals vier „Euroturbos“: Felber, Delamuraz, Ogi und Cotti, welche mehr wollten. Und sie kamen aus allen vier Regierungsparteien. Die Bremser waren Stich, Koller und Villiger. Das waren zwar die politischen Schwergewichte, aber der Bundesrat kann eben mit der einfachen Mehrheit entscheiden. Also kam nun unverhofft das Beitrittsgesuch, und Ogi erklärte den EWR nur noch zum Trainingslager. Einen Beitritt aber wollte die Wirtschaft nicht, und so drehte sie den Geldhahn zu. Und nun stimmten die Beitrittsbefürworter gegen den EWR, denn für sie war dies eine unnötige Verzögerung, und viele EWR-Befürworter erhielten ebenfalls kalte Füsse, wenn dies nur das Sprungbrett für den Beitritt sein sollte. Es ist angesichts dieser Lage erstaunlich, dass der EWR fast die Hälfte der Stimmenden auf sich vereinige.
Und erstaunlich ist angesichts der diplomatischen Erfolge der Vergangenheit in welchem Masse der Bundesrat damals unter Realitätsverlust litt. Es gibt dazu bekanntlich verschiedene Thesen, aber die kann man nur hinter vorgehaltener Hand weiter erzählen!
6. Kapitelchen: Der Not gehorchend und nicht dem eignen Triebe: Der neue Bilateralismus
Auch wenn man uns nun seit einigen Jahren sagt, der sektorale Bilateralismus sei der Königsweg für die Schweiz, so steht doch am Anfang eine Notlösung: Der EWR war dahin, Widerbelebungsversuche scheiterten, an einen Beitritt war nicht mehr zu denken, auch wenn der Bundesrat diese Option noch über zehn Jahre mit sich herumschleppte. Die wirtschaftliche Benachteiligung aber blieb, respektive sie wurde gravierender denn je, denn die EFTA-Partner waren nun im EWR und einige von ihnen traten der EU bei. Es blieb dem Bundesrat deshalb nichts anderes übrig, als auf dem bilateralen Weg zu versuchen, Hindernisse wegzuräumen.
Mit beachtenswerter Chuzpe beantragten die Schweizer Regierung schon zwei Monate nach dem EWR-Nein, Verhandlungen in 15 Bereichen aufzunehmen, die so ungefähr den EWR abdeckten – natürlich ohne die für die Schweiz schwierigen Dossiers Personenfreizügigkeit und Landverkehr. Die Kommission liess sich Zeit, erst im November 1993 signalisierte sie Verhandlungsbereitschaft in insgesamt sieben Bereichen und unter Einschluss des Landverkehrs und der Personenfreizügigkeit. Ausserdem wollte sie einen „parallelisme approprié, das heisst, sie wolle entweder das Gesamtpaket oder nichts. Die Tendenz der Schweiz zum Rosinenpicken war inzwischen in Brüssel hinlänglich bekannt, und auch die Möglichkeiten der Schweiz, am Schluss das Volk Nein sagen zu lassen. Deswegen wurde dann auch die berühmte Guillotineklausel eingebaut, welche der Schweiz die Kündigung einzelner Abkommen verunmöglicht. Am 1. Juni 2002, zehn Jahre nach der Ablehnung des EWR, traten die sieben Verträge in Kraft. Nach einer von der Wirtschaft getragenen intensiven Kampagne sagte der Souverän recht kräftig Ja – mit 67,2%. Dies war ein Plebiszit für das, was man nun den „bilateralen Weg“ nannte.
Nun, den Fortgang der Geschichte kennen Sie. Obwohl der Bilateralismus längst todgesagt worden war, ging es fröhlich weiter mit einem zweiten Paket, welches aus der Sicht der EU allerdings kein Paket war. Eigentlich wollte die Schweiz nicht viel, sondern nur über einige Left-overs aus dem ersten Paket verhandeln. Doch dann kam die EU mit zwei Schwergewichten: Zinsbesteuerung und Betrugsbekämpfung. Die Schweiz revanchierte sich mit der Forderung, bei Schengen/Dublin mitzumachen. Und dies alles kam sogar in kurzer Zeit zustande. Im Juni 2005 sagte das Volk mit 54,6% der Stimme Ja zu Schengen/Dublin. Zu reden gab dann nochmals die Ausdehnung der Freizügigkeit auf die neu beigetretenen Staaten in Mittel- und Osteuropa.
Im Grossen und Ganzen funktionieren die bilateralen Abkommen gut, und, wenn es nach der Schweiz ginge, hätten schon einige weitere zustande kommen sollen. Doch nun ist Brüssel mit dem „bilateralen Weg“ nicht mehr zufrieden: Ihr ist die ganze Sache zu komplex, zu schwerfällig und leidet an diversen Rechtunsicherheiten. Sie übt nun zunehmend Druck auf die Schweiz aus, einem institutionellen Gesamtabkommen zuzustimmen, welches sich am EWR orientiert. Doch es harzt in der Schweiz, denn man will den EWR nicht. Man hofft wieder darauf, etwas Besseres, massgeschneidertes herauszuholen. Die Untätigkeit war auch durch den einjährigen Wahlkampf zu erklären, und die Europapolitik beschränkte sich darauf, der SVP keine Argumente zu liefern.
Unmittelbar nach den Wahlen hat der Bundesrat dann genau das doch getan: Dadurch, dass er zwei in Auftrag gegebene Rechtsgutachten zu den institutionellen Fragen unter Verschluss hielt, gab er der Behauptung der SVP Auftrieb, es gebe einen Geheimplan. Es ist aber schlimmer: Es gibt noch nicht einmal einen Geheimplan, der Bundesrat weiss schlicht nicht mehr wie weiter.
7. Kapitelchen: Wie also weiter?
Ja, das möchten Sie nun wohl gerne wissen, aber ich sage es ihnen nicht. Nicht nur deshalb, weil auch der Amateur-Historiker kein Zukunftsforscher ist, sondern weil ich meine, darüber sollten wir diskutieren.