Vortrag am 23. November 2011 in Bern anlässlich des Symposiums „50 Jahre Integrationsbüro EDA/EVD, Bilanz und Perspektiven“

Einige Reminiszenzen aus der Geschichte der schweizerischen Europapolitik

 

Gratulation!

Ich gratuliere dem Integrationsbüro ganz herzlich zu seinem 50. Geburtstag! Die Gratulation richtet sich einmal direkt an die hier Anwesenden früheren und heuti-gen Verantwortlichen für die Europapolitik; wir können uns aber auch alle dazu gratulieren, dass die Europapolitik über ein halbes Jahrhundert hinweg in guten Händen war.

50 Jahre Integrationsbüro EDA/EVD: Bilanz und Perspektiven, Rückschau und Vorschau. Nun, die Perspektiven überlasse ich gerne berufeneren Personen in diesem Saal, zu Rückschau und Bilanz aber hätte ich schon einiges zu sagen. Nur was? Ich würde Ihnen gerne mein Buch „Königsweg oder Sackgasse“ zusammenfassen, aber unter zwei Stunden lässt sich das leider nicht bewerkstelligen. Ich habe deswegen meinem Referat vorsichtigerweise den Titel gegeben: „Einige Reminiszenzen aus fünfzig Jahren schweizerischer Europapolitik“. Dies lässt es zu, einiges auszuwählen und vieles wegzulassen. Anekdoten wären eine Möglichkeit, und wenn man sich in die persönlichen Nachlässe früherer Protagonisten vertieft und mit heutigen unterhält, findet man viel Merk- und Denkwürdiges, welches jedem Vortrag Würze verliehe. Doch da einige der dramatis personae hier mit uns sind, wäre es unklug, Ihnen secondhand Ware anzubieten.

Schuster bleib bei deinen Leisten! Der wissenschaftlichen Betrachtung sollten eine gewisse Distanz zu ihrem Objekt und ein Bemühen eignen, in der Realität Strukturen und Zusammenhänge zu erkennen. Ich lasse meine Rückschau deshalb von der Frage anleiten, was konstant geblieben ist an der schweizerischern Europapolitik und was sich seit 1961 verändert hat. Oder anders gefragt: Sind trotz der Umwälzungen, welche in diesem letzten halben Jahrhundert stattgefunden haben, in dieser Politik durchgehende Linien oder wiederkehrende Muster zu erkennen? Und könnten diese möglicherweise sogar dazu dienen, uns in der heutigen, schwierigen Zeit Orientierung zu geben?

 

Konstanten und Veränderungen

Nun, eine Konstante war gewiss unsere Jubilarin, das Integrationsbüro. Es ist heutzutage schon selten, dass eine staatliche Stelle 50 Jahren lang denselben Namen trägt. Wer erinnert sich noch an das Eidgenössische Politische Departe-ment, die Handelsabteilung, das BAWI, den Vorort oder die Ständige? Konstant geblieben sind auch Aufgabe und Funktion des Integrationsbüros: Ein Kompe-tenzzentrum und Koordinationsorgan für die Europapolitik.

Alle Leiter des IB haben glänzende Karrieren gemacht, Staatssekretäre, Bot-schafter, internationale Führungspositionen – Konstanz auch hier. Und nicht zu-letzt: Obwohl die Unterstellung eines Amtes unter zwei Departemente ungewohnt war und nach Ansicht der Verwaltungswissenschaft den sicheren Schiffbruch bedeutet, hat sich das IB durch alle Stürme hindurch flott über Wasser gehalten. Und hier nun der Bruch: Wie ich höre, soll das IB künftig nur noch einer Dame – oder einem Herrn – dienen. Warum nur? Gehört etwa auch diese Veränderung zum europapolitischen Geheimplan des Bundesrates?

Enorm gewandelt hat sich der supranationale europäische Verband, wessentwegen es die schweizerische Europapolitik in der heutigen Form überhaupt gibt. Aus sechs Mitgliedern sind 27 geworden. Aus einem anfänglich zaghaften Versuch, bisher abgeschottete Volkswirtschaften gegeneinander zu öffnen, sind ein gemeinsamer Markt und dann ein Binnenmarkt entstanden, der Europa zu Wohlstand verholfen hat. Es gab Zeiten der Krise und des Stillstandes und es gab Zeiten des Aufbruchs und Vorwärtsstrebens. Seit dem Maastrichter Vertrag, der Wirtschafts- und Währungsunion, der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik und dem gescheiterten Versuch einer Verfassungsbebung mehren sich aber die Zweifel, ob die eigenartig hybriden politischen Strukturen der EU die Last werde tragen können, welche sie sich aufgebürdet hat.

Konstant geblieben ist die in der Schweiz vorherrschende Meinung, man könne oder solle diesem Verband nicht beitreten. In der Intensität dieser Ablehnung aber gab es Schwankungen – ungefähr im Gleichschritt mit den Gezeiten in der Gemeinschaft selbst. Das Binnenmarktprojekt strahlte Ende der 80er Jahre so viel Kraft und Zuversicht aus, dass nicht nur der Bundesrat meinte, ein Beitritt wäre nicht mehr zu verhindern, sondern auch viele andere, welche heute daran nicht mehr erinnert werden möchten. Inzwischen sind wir aber wieder auf der sicheren Seite einer weit verbreiteten Ablehnung. Doch alles bewegt sich fort und nichts bleibt.

Konstant geblieben an der schweizerischen Europapolitik ist jedoch das Ziel. Es ging immer darum – und geht es heute noch – wirtschaftliche Nachteile, die sich aus dem Zusammenschluss der andern Staaten ergeben, möglichst gering zu halten. Das war schon so, als der Bundesrat 1956 mit der Montanunion ein Konsultationsabkommen abschloss, und es ist heute noch so, wenn die Schweiz sich in den gemeinsamen Strommarkt einklinken will. Das Problem ist in ökonomischen Termini die sogenannte Handelsumlenkung: Wenn zwei Staaten ihre Märkte integrieren, dann steht ein Drittstaat auch dann schlechter da, wenn die Aussenhürden der zwei – absolut gesehen – nicht erhöht werden: Er ist relativ benachteiligt. Und das gilt nicht nur für Zölle und für technische Handelshemmnisse, sondern auch für Berufszulassungen, Banklizenzen und Landerechte.

Da die Gemeinschaft und die Union in den letzten 50 Jahren immer weitere Hürden abgebaut haben, ergab sich für die Schweiz immer wieder die Herausforderung, Mittel und Wege zu finden, um von diesem Markt nicht ausgeschlossen zu werden. Je nach abzubauender Hürde kamen dazu verschiedene Instrumente in Frage – von einseitiger Anpassung bis zu GATT-weiten Liberalisierungen. Doch einen ungehinderten Markzugang können letztlich nur Abkommen mit der Europäischen Union sicherstellen. Daneben und darum herum wurde auch mache anderer Bereich vertraglich geregelt, aber das Movens der schweizerischen Europapolitik war und ist die Verhinderung oder Minderung wirtschaftlicher Schlechterstellung.

Immer wieder andere Mittel, habe ich gesagt, denn es ist nicht dasselbe, Zölle im Gleichschritt gegen null zu fahren, Industrienormen zu harmonisieren, Arztzeugnisse gegenseitig anzuerkennen oder Grenzkontrollen abzubauen. Von den materiellen Differenzen abgesehen sind auch unterschiedliche institutionelle Lösungen vonnöten. Was diesbezüglich im Laufe der Zeit konstant geblieben ist und was sich verändert hat, möchte in im Folgenden darlegen.

 

Das Bermudadreieck

Dreimal geriet die Schweiz im vergangenen halben Jahrhundert in schwieriges europapolitisches Fahrwasser: Beim Assoziationsversuch 1961/63, beim EWR 1990/92 und, so meine ich, heute. Und zwar jedes Mal aus dem gleichen Grund: wegen des „Bermudadreiecks“. Was meine ich damit?

Wenn immer sich ein Drittstaat am Gemeinsamen Markt beteiligen will und dazu in erheblichem Masse Gemeinschaftsrecht übernimmt, dann kommt er an eine Schwelle, ab welcher sich drei essentielle Anforderungen nicht mehr miteinander vereinbaren lassen. Er gerät in ein Trilemma. Die erste Bedingung ist die Aufrechterhaltung seiner Souveränität, die zweite die Homogenität des gemeinsamen Rechtsraumes und die dritte die Entscheidungsautonomie der Gemeinschaft oder der Union. Eine weitere Integration ist dann nur möglich, wenn mindestens an einer dieser Bedingungen Abstriche gemacht werden.

Dies wurde, wie erwähnt, der Schweiz zum ersten Mal deutlich bewusst, als sie, zusammen mit andern EFTA-Ländern, 1961 eine Assoziation an die EWG in Erwägung zog. Dass genau damals das Integrationsbüro gegründet wurde, ist natürlich kein Zufall. Wie kam die Schweiz dahin?

Bekanntlich hatte sie kurz vor dem Zweiten Weltkrieg zur integralen Neutrali-tät zurückgefunden und war in der Folge äusserst zurückhaltend bei der Teilnah-me an den nach dem Krieg entstehenden internationalen Organisationen. Eine Ausnahme machte sie bei der OEEC. Ein Beitritt zur supranationalen Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl kam nicht in Betracht. Als sich jedoch nach Messina die sechs Staaten der Montanunion aufmachten, eine umfassende Wirtschaftsgemeinschaft zu gründen, trat die Schweiz aus der Reserve. Eine Zollunion ihrer wichtigsten Handelspartner würde zu erheblichen Nachteilen für die Wirtschaft führen. Zusammen mit andern Ländern – namentlich dem Vereinigten Königreich – lancierte sie ein Gegenprojekt: Eine OEEC-weite Freihandelszone. Dies wäre beinahe gelungen, denn in Deutschland und den Niederlanden gab es eine weit verbreitete Skepsis gegenüber der EWG.

Doch dann kam de Gaulle. Er lernte Adenauer kennen und schätzen, und Arm in Arm wehrten sie den britischen Unterminierungsversuch ab – die EWG konnte starten. Die OEEC verlor ihre Funktion als Promotorin der westeuropäischen wirtschaftlichen Integration. En attendant gründeten die Nicht-Sechs – es waren sieben – die kleine Freihandelszone EFTA – eine Art Warte- und Proberaum. Es war für Hans Schaffner, den damaligen Chef der Handelsabteilung, wichtig zu zeigen, dass dies überhaupt funktionieren konnte, trotz der Probleme mit der Warenherkunft. Damit aber gab es nun in Europa zwei Präferenzzonen, ein Zustand, mit dem niemand froh wurde.

Dann kam der Schock: Grossbritannien warf das europapolitisches Steuer 1961 herum und wollte nun der Gemeinschaft beitreten. Dies hätte aus damaliger Sicht wohl das Ende der EFTA bedeutet, zumal auch Dänemark und Norwegen fahnenflüchtig zu werden gedachten. Die Schweiz, Österreich und Schweden gerieten in eine unhaltbare Position. Was war zu tun?

 

Der Assoziationsversuch

Der Römer-Vertrag kannte mit dem Artikel 238 eine Assoziation von Drittstaaten. Eben hatten Gespräche darüber mit Griechenland und der Türkei begonnen. Es stellte sich nun die Frage, ob Ähnliches auch für die hoch entwickelten EFTA-Länder in Frage käme. Bei ihnen würde es um einen umfassenden Marktzugang gehen, auch für Menschen und Dienstleistungen. Deswegen würden sie wohl auch an den entstehenden EWG-Politiken partizipieren müssen. Eine Annäherung der Zollsätze wäre wahrscheinlich nicht zu umgehen. Und wie stünde es mit der Gemeinsamen Agrarpolitik? Aus Brüssel gab es Signale, eine Assoziation käme grundsätzlich in Frage, doch man tat dorten wenig, um sie zu konkretisieren.

Die drei neutralen Staaten taten sich nun zusammen, um ein solches Vorha-ben in allen Einzelheiten zu studieren. Das war eine riesige Arbeit, und dazu brauchte man Kapazitäten. Die Handelsabteilung unter Edwin Stopper übernahm zusammen mit dem Vorort die Federführung, in die „Ständige“ wurden die andern Spitzenverbände vermehrt einbezogen, und das Integrationsbüro entstand als Arbeits- und Koordinationsorgan. Der Breite des voraussichtlichen Abkommens wegen mussten die verschiedensten Ämter beteiligt werden. Der erste Chef des IB wurde Paul Jolles. Die beiden Departementsvorsteher waren Friedrich Traugott Wahlen und Hans Schaffner. Es entstand damit in der Bundesverwaltung – wie man heute wohl sagen würde – ein europapolitisches „Cluster“ mit hohem fachlichem und politischem Potential.

Obwohl nun diese Prüfung zeigte, dass eine Assoziation in der Schweiz zu massiven Veränderungen in verschiedensten Politikbereichen führen und die bisherigen aussenpolitischen Grundsätze vom Sockel stossen würde, reichten die drei Neutralen im Dezember 1961, also vor fast genau 50 Jahren, ihre Assoziationsgesuche ein. Diese wurden in Brüssel kaum zu Kenntnis genommen und in der Folge lieblos behandelt. 1962 gab es Anhörungen, und die Kommission sowie das Parlament beschäftigten sich etwas intensiver mit dem Projekt.

Und nun traten, es wird Sie nicht wundern, institutionellen Fragen in den Vor-dergrund. Eine Teilnahme der EFTA-Staaten an der Gesetzgebung? Keinesfalls, liess Brüssel mitteilen. Und wer sollte die Umsetzung des Acquis in den Drittstaaten überwachen? Eine eigene Behörde? Für die Auslegung des Rechts käme wohl nur der EuGH in Frage. Fremde Richter also? Und was geschähe, wenn ein EFTA-Staat neues Recht nicht übernehmen würde? (Diese Fragen kommen einem heute sehr bekannt vor!) Man prüfte verschiedene Varianten und kam zum Schluss, dass jede zu einem beträchtlichen Souveränitätsverlust führen würde. Die Schweiz segelte also voller Kraft auf das Bermudadreieck zu!

Anfänglich liessen sich diese unangenehmen Erkenntnisse noch im Kreis der direkt Beteiligten einschliessen, doch dann gelangten sie über die Verbandspresse an die Öffentlichkeit. Und da baute sich nun rasch eine breite Ablehnungsfront auf. Der Berner Bund schrieb zum Nationalfeiertag 1962:

 

Je näher wir der EWG rücken, je konkreter die Dinge (...) geprüft werden, desto deutlicher wird, dass Grundlagen unseres Staates in Frage gestellt werden; die Souveränität (...), das Volksreferendum, der Föderalismus. Andere Staaten haben teilweise auf Souveränitätsrechte verzichtet oder scheinen dazu bereit zu sein, und man wird uns ein Gleiches zumuten. Aber nirgends greift ein solcher Verzicht so tief wie in unserem Volksstaat, wo das Volk, und damit jeder Bürger, der Souverän ist.

 

Man hätte von Bern aus zweifellos die Übung abgebrochen, wenn nicht de Gaulle diesmal den weisser Ritter gegeben hätte: Im Januar 1963 stoppte er die Verhandlungen mit Grossbritannien, und damit fielen auch die Assoziationspläne ins Wasser. Das Bermudadreieck war umschifft.

Mitte neunziger Jahre untersuchte mein damaliger Assistent Martin Zbinden diese Ereignisse im Rahmen seiner Dissertation. Wir waren erstaunt ob der weitreichenden Parallelen mit dem eben untergegangenen EWR.

 

Freihandelsabkommen

Als nach dem Rücktritt de Gaulles die EWG bereit war, neue Staaten aufzuneh-men und mit den Rest-EFTA-Ländern Freihandelsabkommen abzuschliessen, war bei den Verantwortlichen in der Schweiz die negative Assoziationserfahrung noch präsent. Paul Jolles war inzwischen Chef der Handelsabteilung geworden, die hier im Saal anwesenden Herrn von Tscharner und Blankart leiteten nacheinander das Integrationsbüro. Es wird Sie nicht erstaunen, dass die Schweiz nun ein schlankes Freihandelsabkommen anstrebte, welches ohne weitere Rechtsangleichung und aufwändige Institutionen auskam. Durch eine enge Zusammenarbeit der Schweiz mit der Kommission gelangte man in kurzer Zeit zum Ziel. Das Abkommen wurde Volk und Ständen unterbreitet, das Volk sagte mit 72,5% Ja, alle Kantone waren dafür.

An Franz Blankart war es in der Folge, das Wissen um das Bermudadreieck weiter zu tragen – ständig wieder aufgefrischt durch die schier unendlich langen Verhandlungen zum Versicherungsabkommen. Seine Erkenntnisse hat er sehr prägnant 1978 in einem Vortrag vor dem Bernischen Juristenverein dargelegt, der den Titel trug: „Die EWG als Vertragspartner der Schweiz. Gedanken zur Ver-tragabschlussbefugnis der Gemeinschaft“. Er zeigte, dass die Ablehnung der Mitbestimmung für Drittstaaten kein unfreundlicher Akt der EWG war, sondern sich zwingend aus dem besonderen, die Souveränität der Mitgliedstaaten beschränkenden supranationalen System ergab. Und, als Folge, dass Drittstaaten nie über ein „decision shaping“ hinauskommen würden.

 

Der EWR

Sie kennen den Fortgang der Geschichte: Die Gemeinschaft erholte sich Anfang der 80er Jahre und startete mit dem Binnenmarktprogramm in die erfolgreichste Phase ihrer Geschichte. In der Schweiz begann man sich für „Europa“ zu erwär-men, und zugleich fürchtete die Wirtschaft neue Nachteile. Im sogenannten Lu-xemburger Prozess erprobten EG und EFTA verschiedene Modelle, diese abzu-bauen, doch die Sache kam nicht recht vom Fleck. Ausserdem wuchs in Öster-reich, Schweden und Finnland das Interesse an einem Beitritt.

Für Jacques Delors, Kommissionspräsident und Vater des Binnenmarktpro-gramms, war jedoch die Vertiefung der Gemeinschaft wichtiger als die Erweite-rung, und deswegen musste er den EFTA-Staaten eine Alternative anbieten. Er sprach 1989 vor dem Europäischen Parlament davon, dass man mit diesen Staaten eine neue Form der Assoziation eingehen könnte, „avec des organes communs et de gestion et de décision“. Dies stand nachweislich nicht in seinem Redetext, und kurz darauf wollte er davon auch nicht mehr wissen. Doch Gutgläubige dachten auch hierzulande, damit gäbe es nun einen Ausweg aus dem Bermudadreieck, denn wenn man mitbestimmen könnte, würde ja die Souveränität nicht mehr leiden. Man kann das so sehen.

Da die andern EFTA-Staaten drängten, und es auch in der Schweiz Anhänger eines grossen Schritts nach vorn gab, blieb dem Bundesrat nichts anderes übrig, als in die EWR-Verhandlungen einzusteigen. Materiell wurde man sich erstaunlicherweise bald einig: Eine umfassende Beteiligung an den vier Freiheiten und an den begleitenden Politiken, jedoch keine Zollunion und keine gemeinsame Agrarpolitik. Die Probleme aber wurden beinahe unüberwindlich bei den – Sie erwarten es schon – institutionellen Fragen. Und hier setzte nun ein zweijähriger Prozess des Nachgebens und Verzichtens der EFTA-Staaten ein, welcher wohl zum Abbruch der Verhandlungen geführt hätte, wäre denn die Schweiz allein gewesen. Doch man sass nun mal im EFTA-Boot, und auch die Schweizer Wirtschaft drängte auf ungehinderten Marktzugang. Es wurde klar, dass das Bermudadreieck diesmal nur zum umschiffen war, wenn man Souveränitätsverluste in Kauf nahm. Die Wirtschaft störte dies wenig.

Es störte dagegen vier von sieben Bundesräten, und deshalb beschloss unsere Regierung im Mai 1992, in Brüssel ein Beitrittsgesuch zu stellen. Dass dies den Sargdeckel über dem EWR schloss, wird heute kaum mehr bestritten.

 

Der bilaterale Weg

Nach dem Nein des Souveräns im Dezember 1992 sah die Lage für die Schwei-zer Wirtschaft schlechter aus denn je, denn nicht nur war der Binnenmarkt beinahe vollendet, an ihm nahmen nun bald auch fast alle bisherigen EFTA-Partner teil – als Mitglieder der EU oder des EWR. Das bundesrätliche „strategische Ziel“ des Beitritts lief noch ein paar Ehrenrunden, doch dann wurde es schubladisiert. Nun blieb nur noch der Gang nach Canossa, die Bitte an Brüssel, möglichst bald über alles bilateral zu verhandeln, was man eben multilateral abgelehnt hatte. Es waren Franz Blankart und Jakob Kellenberger, welche nun im Büssergewand eine Weile vor den Brüsseler Türen warten mussten.

Und die EU stellte ihre Bedingungen für die Aufhebung des Banns: ohne Personenfreizügigkeit und Landverkehr war nichts zu machen, und die sieben Dossiers unterlagen dem „parallelisme approprié“ in den Verhandlungen und wurden durch die Guillotineklausel für alle Zeiten zusammengebunden. Dafür bleiben die Abkommen im Wesentlichen statisch, Anpassungen konnten nur mit Zustimmung der Schweiz vorgenommen werden. Institutionell beschränkte man sich auf gemischte Ausschüsse. Es bestanden damit gute Aussichten, verschiedene Marktzugänge zu öffnen ohne in die Nähe des Bermudadreiecks zu gelangen. Dass dieses schwergewichtige Paket vom Souverän mit 67,2% gutgeheissen wurde, ist nicht nur der Vorliebe der Schweizer für Sonderwege zu verdanken, sondern auch der kräftigen Kampagne der Wirtschaft: „Bewährte Bilaterale“ hiess von nun an die Losung. Diese Investitionen in des Bürgers Bewusstsein haben sich seither noch dreimal bewährt, und schon deswegen hält Economiesuisse an den Bilateralen fest. Noch.

Nun, man ruhte sich nicht auf den Lorbeeren aus, man war nun auf den Ge-schmack gekommen und begann fast schon etwas hektisch in allen möglichen Bereichen zu verhandeln. Das ging weit über den Marktzugang hinaus: Zinsbe-steuerung, Betrugsbekämpfung, Abbau der Grenzkontrollen, Asylwesen und so weiter. Da liess sich nun die reine Statik klassisch völkerrechtlicher Verträge nicht mehr aufrechterhalten, verschiedene neue Varianten der Rechtsübernahme und des decision shaping wurden erprobt. Manchen begann zu dämmern, dass man damit einmal mehr in den Sog des Bermudadreiecks geraten würde.

Deshalb war man zuständigerseits nicht wirklich erstaunt, als Brüssel anmahnte, die Rechtübernahme und einige weitere institutionelle Fragen müssten für alle Abkommen neu gestaltet werden. Auch in der Schweiz sprach man von einem Rahmenabkommen. Darüber wird nun seit drei Jahren diskutiert, doch ohne sichtbare Fortschritte. Es werden Arbeitsgruppen eingesetzt und Gutachten in Auftrag gegeben, aber deren Resultate bleiben (vorerst) geheim. Dafür gibt es offenbar gute Gründe: die Meinungsbildung im Bundesrat sei noch nicht abgeschlossen, heisst es. Und man dürfe sich nicht in die Karten schauen lassen. Aber ich vermute, es gibt noch einen weiteren Grund für die Diskretion: Man weiss nicht mehr, wie weiter. Ich werde mich aber gerne eines Besseren belehren lassen!