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Vortrag vor dem Förderverein des Europainstituts Basel vom 4. September 2012
Wer hat Angst vor dem EWR? Eine Bilanz zwanzig Jahre nach dem 6. Dezember 1992
Einleitung
Am 6. Dezember 1992 hatten das Schweizervolk und die Kantone das EWR-Abkommen abgelehnt, die Kantone kräftig mit 16 zu 7, das Volk knapp mit 50,3% Nein. Wer sich damals, wie Bundesrat Delamuraz, erstaunt und erbost zeigte, hatte Unrecht, denn die Umfragen hatten gezeigt, dass die Kantone ablehnen würden.
Trotzdem, es war, angesichts der Komplexität der Materie, der weitreichenden Konsequenzen und der vorangehenden Ereignissen ein erstaunlich positives Resultat: Es fehlten 0,3 % oder 24'000 Ja-Stimmen. Zum Vergleich: 2001 haben wir über die Initiative „Ja zu Europa“ entschieden – es ging darum, dass der Bundesrat sofort Beitrittsverhandlungen aufnehmen sollte: alle Kantone lehnten ab, das Volk mit 77% der Stimmen. Und noch eine Bemerkung zum Stände-Nein: Es kommt dabei sehr auf die Verteilung an. Der UNO-Beitritt wurde 2002 bekanntlich nur mit 54,6% der Stimmen angenommen, und erreichte trotzdem knapp das Kantonsmehr (12:11). Und dies geschah 16 Jahre nach der ersten UNO-Abstimmung, die bekanntlich haushoch gescheitert war. So ganz hoffnungslos ist die EWR-Sache also denn doch nicht gewesen.
Jahr Thema Ja-Stimmmen Stände-Ja
1992 EWR 49,7% 7
2001 Ja zu Europa 23% 0
2002 UNO 55 % 12
1986 UNO 24 % 0
Trotzdem, es war ein Nein. Und von da an fristete der EWR in der schweizerischen Diskussion nur noch ein Schattendasein. Es gab zwar kurzfristig eine Jugendbewegung mit dem schönen Namen „geboren am 7. Dezember“, und diese reichte 1993 eine Volksinitiative ein, welche den Bundesrat ermächtigen sollte, ein neues EWR-Abkommen auszuhandeln, abzuschliessen und zu ratifizieren – ohne Volksabstimmung. Nun, das Anliegen war derart chancenlos, dass es 1997 zurückgezogen wurde.
Doch was ist aus dem EWR geworden? Manche meinen, er stände kurz vor dem Aus. Keineswegs! Er besteht zwar nur noch aus drei Mitgliedern, Norwegen, Island und Liechtenstein. Die andern damaligen EFTA-Staaten sind inzwischen der EU beigetreten. Island hat ein Beitrittsgesuch eingereicht, aber dessen Chancen beim Volk nehmen ab. In Norwegen hat sich das Volk 1972 und 1994 gegen einen Beitritt ausgesprochen, obwohl fast alle politischen Kräfte dafür waren. Liechtenstein dagegen fühlt sich im EWR gut aufgehoben. Der EWR läuft seit 18 Jahren weitgehend problemlos, und dies entgegen den meisten damaligen Einschätzungen, dass das komplizierte und hybride Institutionensystem nicht werde funktionieren können. Der EWR ist also alles andere als moribund.
Aber eben, die Schweiz hat 1993 den sogenannte „bilateralen Weg“ eingeschlagen, und das Volk hat in mehreren Abstimmungen klar gemacht, dass es diese Methode trotz all ihrer Mängel richtig findet. Auch die Wirtschaft ist im Grossen und Ganzen zufrieden. Kein Grund also, über Alternativen nachzudenken.
Doch seit vier Jahren stellt die EU diesen Weg zunehmend in Frage, sie verlangt von der Schweiz einen institutionellen Rahmen für alle Abkommen, insbesondere eine quasi-automatische Rechtsübernahme, eine Behörde, die die Umsetzung überwacht, eine homogene Rechtinterpretation und einen Streitschlichtungsmechanismus – also all das, worüber der EWR eben verfügt. Man hätte nun erwarten können, dass in dieser Situation selbiger aus der Schublade geholt und abgestaubt worden wäre – wenigsten diskussions- und vergleichshalber. Doch dies findet nicht statt, fast alle Beteiligten scheinen eine Scheu davor zu haben, das Kürzel auch nur auszusprechen. Fast alle? Mit Ausnahme einiger Medien, einiger älterer Diplomaten und einiger ebenso älterer Professoren – älter schon allein deswegen, weil die Jüngeren gar nicht mehr wissen, wovon die Rede ist.
Die Frage ist also: Wer hat Angst von dem EWR? Und wer ist der grosse, böse Wolf? Um sie zu beantworten, muss ich einige der damaligen Ereignisse nochmals etwas genauer unter die Lupe nehmen.
Wie es zum EWR kam. Eine kurze Rückschau
Bis in die 1980er Jahre hinein hatte die Schweiz eine klare europapolitische Strategie verfolgt: Verhinderung wirtschaftlicher Nachteile, die sich aus der europäischen Integration ergaben. Ein Beitritt zur EG kam aus materiellen und institutionellen Gründen nie in Frage. Das Freihandelsabkommen von 1972 hatte Zölle und Kontingente beseitigt und über die Entwicklungsklausel den Weg zu ergänzenden Verträge geebnet. Die Forschritte im GATT und später in der WTO schleiften weitere Handelshindernisse. Wegen der Wirtschaftskrisen stagnierte der Integrationsprozess in der EG in den 1970er Jahren. Zu Beginn der 1980er Jahre hellte sich der Himmel auf. Nach 1984 wurden mit dem sogenannten Luxemburger Prozess zwischen der EG und den EFTA-Ländern in pragmatischer Weise Lösungen für Probleme der Zusammenarbeit gesucht. Alles ging seinen ruhigen Gang, ganz im Sinne der Schweiz.
Doch Mitte der 1980er Jahren erwachte die Gemeinschaft definitiv aus der Erstarrung, und bald entfaltete das Binnenmarktprogramm eine unerwartete Dynamik. 1989 fiel die Berliner Mauer, das Sowjetimperium löste sich auf, Europa wurde durchgeschüttelt und schwankte zwischen Furcht und Hoffnung. Die Gemeinschaft begann, sich auf die neuen Herausforderungen aus dem Osten vorzubereiten, und plante weitere grosse Integrationsschritte (Währung, Aussenpolitik). Für die EFTA-Staaten stellt sich nun dringend die Frage, wie ihr Verhältnis zu dieser dynamischen EG gestaltet werden sollte, und einige von ihnen begannen, über einen Beitritt nachzudenken. Auch in der Schweiz war man interessiert und beunruhigt, doch der Bundesrat wollte vorläufig am bewährten Weg sektoraler Abkommen festhalten. Er schloss zwar in seinem europapolitischen Bericht von 1988 einen Beitritt auf lange Sicht nicht völlig aus, doch gegenwärtig käme diese Variante nicht in Betracht.
Der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors – der Vater des Binnenmarktprogramms – wollte die EG zuerst vertiefen und dann erweitern, er konnte also keine Beitrittsgesuche brauchen. Deswegen lockte er die EFTA-Staaten 1989 mit der Idee eines Europäischen Wirtschaftsraumes, der „binnenmarktähnliche Verhältnisse“ bieten sollte. Ausserdem sprach er von „gemeinsamen Entscheidungs- und Verwaltungsorganen“. Nun glaubten auch bei uns viele, das Ei des Kolumbus sei gefunden. Erfahrene Berner Handelsdiplomaten zweifelten zwar an diesem „Sonderangebot“, da bis anhin die Gemeinschaft ihre Entscheidungsautonomie vehement verteidigt hatte. Doch die EFTA-Partner drängten, und so blieb der Schweiz nichts anderes übrig, als in Verhandlungen einzusteigen.
Materiell wurde man sich bald einig: Binnenmarkt Ja, Landwirtschaft und Fischerei Nein, Wettbewerbspolitik Ja, Währungsfragen Nein, flankierende Politiken Ja (Umwelt, Konsumentenschutz, Arbeitsrecht), gemeinsame Handelspolitik Nein. Soweit konnte die Schweiz zufrieden sein. Institutionell jedoch gingen die Vorstellungen weit auseinander. Von gemeinsamen Entscheidungs- und Verwaltungsorganen war bald keine Rede mehr, und die EFTA musste mit einer Stimme sprechen und eigene Organe für die Überwachung und die Rechtsprechung einrichten. Dies bedeutete eine Supranationalisierung der EFTA. Nicht nach dem Geschmack der Schweiz. In den Verhandlungen musste die EFTA eine Position nach der andern räumen. Dies, und die Umbrüche im Osten, bewogen Österreich und Schweden, den Beitritt zur Gemeinschaft anzustreben, was die EFTA-Position weiter schwächte.
Auch in der Schweiz mehrten sich nun Zweifel, ob der EWR noch eine sinnvolle Lösung darstelle. Der Bundesrat gelangte zur Ansicht, der EWR sei nur noch als Vorstufe zu einem Beitritt vertretbar, und er stellte im Mai 1992 ein entsprechendes Gesuch bei der EG-Ratspräsidentschaft. Doch Volk und Stände lehnten am 6. Dezember 1992 den EWR-Vertrag eben ab, und an einen Beitritt war nun nicht mehr zu denken. Die Schweiz stand ziemlich allein da. Der Bundesrat hielt zwar vorläufig noch am Beitritt als längerfristiger Strategie fest, doch kurzfristig versuchte er, den pragmatischen Weg bilateraler sektorieller Abkommen wieder aufzunehmen. Und dies, wie wir wissen, mit einigem Erfolg.
Das Trauma
Das Volk war Bundesrat und Parlament also nicht gefolgt. Das kommt in der Schweiz oft vor, und meist braucht die Classe politique nicht lange, um sich von der Niederlage zu erholen. Wie also ist es zu erklären, dass die viele Politiker offensichtlich noch nach zwanzig Jahren Angst vor dem EWR haben? Es ist möglicherweise nicht das Resultat der Abstimmung, welches sie traumatisiert hat, sondern die Art und Weise, wie sie in dieses Abenteuer hineingestolpert waren.
Als die institutionellen Mängel des EWR sichtbar wurden, hatte die Schweiz grundsätzlich drei Handlungsmöglichkeiten: (1) Den EWR trotz Bedenken annehmen, (2) den EWR annehmen und dann den Beitritt anstreben oder (3) zum status quo ante zurückkehren, also weiterhin in Bereichen gegenseitigen Interesses bilaterale Abkommen abschliessen. Die Studien von Professor Heinz Hauser hatten gezeigt, dass die Fortsetzung des bisherigen Wegs ohne grössere wirtschaftliche Schwierigkeiten möglich gewesen wäre – allerdings unter der Voraussetzung einer umfassenden internen Liberalisierung. Eigenartigerweise wurde diese dritte Variante jedoch von kaum jemandem in Betracht gezogen und näher geprüft. Ein Grund mag sein, dass verschiedene Experten meinten, die EG sei zu bilateralen Verträgen nicht mehr bereit. Das hat sich bald als falsch erwiesen. Ein zweiter Grund mochte mit der Ansicht Silvio Borners zusammenhängen, die Schweiz werde ohne Druck von Aussen nicht in der Lage sein, ihre Strukturen zu modernisieren. Ebenso wichtig scheint mir aber, dass weite Teile der Politik von einem Europafieber angesteckt waren, dass landauf, landab eine gewisse Euro-Euphorie herrschte. Man ortete offenbar ein Window of opportunity, das es nicht zu verpassen galt. Der Spruch „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ war noch taufrisch!
Viele Politiker und einige Parteien werden heute nicht mehr gerne daran erinnert, wie rasch sie damals auf den Beitrittszug aufgesprungen sind. In der Schweiz haben neue Ideen bekanntlich eine sehr lange Reifezeit, man denke etwa an das Frauenstimmrecht oder den neuen Finanzausgleich. Jahrzehnte! Hier nun erfolgte ein Umschwenken bei grossen Teilen der politischen Eliten innerhalb kürzester Zeit – zwischen 1988 und 1992. Dabei war die Auffassung, die Schweiz könne aus schwerwiegenden Gründen der Gemeinschaft nicht beitreten, im Laufe der vorangegangenen vierzig Jahren noch und noch überprüft und bestätigt worden. Daran hatte sich grundsätzlich nichts geändert, auch jetzt bedeutete ein Beitritt einen Einschnitt von kaum abschätzbarem Ausmass: Schwächung des Föderalismus, Einschränkungen für die direkte Demokratie, Umbau der Kollegialregierung, Umkrempelung der Landwirtschaftspolitik und des Steuersystem, Kosten von ungefähr fünf Milliarden Franken. Um die Bevölkerung und die Kantone für ein solches Projekt zu gewinnen, hätte man Jahrzehnte und nicht Jahre einplanen müssen. Wie hat man das vergessen können? In der Schweiz gilt eben: „Wer zu früh kommt, den bestraft das Volk“.
Die grössten Fehler aber hat zweifellos der Bundesrat gemacht. Auch er wurde vom Brüsseler Fieber angesteckt. Es war nicht etwa falsch, den Beitritt überhaupt zu thematisieren, doch die Art und Weise, wie das geschah, führte zum Kladdaradatsch. Es gab keinen guten Grund, das Beitrittsgesuch noch vor der EWR-Abstimmung einzureichen; Norwegen etwa hat es erst gestellt, nachdem der EWR unter Dach und Fach war. Dazu kam, dass der Bundesrat die Sache äusserst dilettantisch in Szene setzte. Am 21. Oktober 1991 nahmen René Felber als EDA-Vorsteher und Jean-Pascal Delamuraz als Chef der Volkswirtschaft an EWR-Verhandlungen auf höchster Ebene in Luxemburg teil. Dank Konzessionen der EFTA-Seite wurde zu sehr später Stunde ein Durchbruch erzielt. Die beiden frankophonen Schweizer Magistraten, erklärten um drei Uhr in der Früh des folgenden Tages an einer Pressekonferenz im Pressesaal der EG-Kommission in Luxemburg, das Ziel des Bundesrates sei nun der Beitritt. Das war zwar für Kenner des bundesrätlichen Innenlebens nicht ganz überraschend, doch diesen Strategiewechsel zu der Zeit und an dem Ort zu verkünden, war medial höchst ungünstig. Es sah nun so aus, als ob man beitreten wolle, weil man beim EWR eingeknickt war. Das wirkte nicht gerade heroisch.
Doch auch die Umstände, unter denen dann das Beitrittsgesuch beschlossen und gestellt wurde, waren erstaunlich. Der Bundesrat hatte wegen gesundheitlicher Probleme eines seiner Mitglieder für Montag den 18. Mai 1992 sehr frühmorgens eine ausserordentliche Sitzung einberufen. Es ging vor allem um die Verabschiedung der EWR-Botschaft. Des Weiteren beschloss nun aber die Landesregierung mit vier zu drei Stimmen, ein Beitrittsgesuch einzureichen. Dafür waren die Bundesräte Felber (SP), Delamuraz (FDP), Ogi (SVP) und Cotti (CVP), dagegen Stich (SP), Koller (CVP) und Villiger (FDP). Es ist schier unglaublich, dass ein so schicksalsschwerer Entscheid mit der knappstmöglichen Mehrheit gefällt wurde und man sich angesichts dieses Stimmenverhältnisses nicht noch einmal Zeit zum Nachdenken gab. Für diesen Schritt waren die „Lateiner“ und der frühere internationale Sportfunktionär, dagegen die Deutschschweizer Schwergewichte. Interessant sind die parteipolitische Durchmischung und insbesondere das SVP-Ja.
Wegen eines Lecks war die sensationelle Meldung schon am Mittag in den Medien. Dies nützte vor allem jeden, welche einen „Rückfall“ in eine nüchternere Betrachtung verhindern wollten. Dieser Schritt war ohne systematische Konsultation wichtiger Kräfte in Parteien, Verbänden oder bei den Kantonen gemacht worden. Die spätere Rechtfertigung, das am Sonntag davor erzielte Ja des Souveräns zum Beitritt der Schweiz zu den Bretten-Woods-Institutionen hätten den Bundesrat beflügelt, wäre glaubwürdiger gewesen, wenn auch der Finanzminister Otto Stich diese Meinung geteilt hätte.
Das EWR-Nein führte zu Spannungen zwischen der Deutsch- und der Welschschweiz, wie es sie in dieser Heftigkeit seit dem ersten Weltkrieg nicht mehr gegeben hatte. Befeuert wurden sie von einigen Journalisten, welche seit längerem für den EU-Beitritt geweibelt hatten. Das Beitrittsgesuch verschaffte den rechtspopulistischen Kräften so viel Auftrieb, dass sie seither in europapolitischen Fragen die Meinungsführerschaft haben. Dass der Bundesrat noch zehn Jahre lang am Beitritt als strategischem Ziel festgehalten hat, konnte von diesen Kreisen nutzbringend immer wieder ausgeschlachtet werden. In den folgenden Jahren hielten dilettantische Volksinitiativen für und gegen EWR und Beitritt – lanciert von eher randständigen Gruppen – das Stimmvolk auf Trab. Diese Initiativen wurden entweder zurückgezogen oder haushoch abgelehnt, doch sie lenkten die Europadiskussion auf unfruchtbare Bahnen.
Der Bundesrat, die Parteien und viele Politikerinnen und Politiker hatten also in diesen entscheidenden Jahren ungeschickt, ja teilweise verantwortungslos gehandelt. Ein erstaunlicher Euro-Enthusiasmus hatte ihren Realitätssinn getrübt. Bewährte Regeln und Gebräuche des schweizerischen politischen Systems wurden missachtet. Wenn in der Schweiz die Eliten das Volk vergessen, dann muss man wohl sogar von einem Systemversagen sprechen. Viele der Protagonisten wollten in der Folge daran nicht mehr erinnert werden – ein Zeichen der Traumatisierung. Und diese hat seither die Diskussion über die Europapolitik allgemein und eine Wiederaufnahme des EWR in einen Bann gelegt.
Wie es dann weiterging
Wie aber, so werden Sie fragen, kann es sein, dass diese damaligen Ereignisse bis heute nachwirken? Die Situation hat sich doch völlig verändert. Die meisten der damaligen Protagonisten sind nicht mehr dabei, die heutigen sollten doch die Situation unbefangener beurteilen können? Ich möchte zeigen, wie sich das Trauma perpetuiert hat. Dazu lassen wir die seitherige Europapolitik kurz Revue passieren.
Für den Bundesrat war nach dem 6. Dezember 1992 nicht alles verloren, er hatte einen „Plan B“. Nach nur wenigen Wochen forderte er Brüssel auf, nun bilateral über das zu verhandeln, was der Souverän multilateral nicht haben wollte – und dies ohne den ungeliebten institutionellen Rahmen. Und siehe da, die EU ging – zögerlich zwar – darauf ein. Sie strich einiges von der schweizerischen Wunschliste und setzte ihre beiden Desiderata freier Personen- und Landverkehr drauf – um wenigstens von den materiellen Interessen her Ausgewogenheit herzustellen. Und sie schweisste die sieben Abkommen mittels der Guillotineklausel zu einem Paket zusammen. Doch sie verzichtete auf eine supranationale institutionelle Ausstattung, wohl in der Annahme, die Schweiz wolle ja ohnehin bald beitreten. Das erste Paket wurde vom Volk im Jahr 2000 mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen. Freude herrschte!
Die Tinte unter diesen Abkommen war noch nicht trocken, da stellte der Bundesrat neue Begehren. Diesmal wollte die Schweiz nicht von einem Paket sprechen, sondern jedes Abkommen selbständig verhandeln. Doch die Gegenforderungen der EU (Betrugsbekämpfung und Zinsbesteuerung) und die Gegen-Gegenforderung der Schweiz (Schengen/Dublin) machten wiederum deutlich, dass nur ausgewogene Pakete in Frage kamen. Es ging nun nicht mehr nur unmittelbar um den Zugang zum Binnenmarkt, sondern um eine Integration mit neuer Qualität: engere Polizei- und Justizkooperation, Abbau der Grenzkontrollen, Koordination der Flüchtlingspolitik, Einzug von Steuern zugunsten der Mitgliedsländer durch die Schweiz. Auch solche schwierigen Dinge waren also mittels bilateraler Abkommen behandelbar!
Warum also nicht noch eins draufsetzen und weitere Begehren stellen: Landwirtschaftsprodukte, Strommarkt, Chemiesicherheit, Satellitennavigation, Umweltagentur und so weiter. Was vor zwanzig Jahren die Beitritts-, war nun die Bilateralismuseuphorie.
Doch nun blockt die EU. Sie hat erkannt, dass der Beitritt in der Schweiz kein Thema mehr ist, und sie wird gewahr, dass Helvetien sich in eine gegenüber ihren eigenen Mitgliedern und denen des EWR privilegierte Position manövriert hat: Sie wählt aus, sie übernimmt neues Recht nicht oder selektiv und sie legt es nach eigenen Regeln aus. Deswegen fordert nun die EU eine institutionelle Ummantelung der unzähligen Abkommen in ähnlicher Weise wie im EWR. Und das könnte das Ende des bilateralen Wegs bedeuten.
Zurück zum Trauma
Wie, so haben wir oben gefragt, konnte das Trauma zwanzig Jahre lang wirksam bleiben? Und Inwiefern ist der Bilateralismus eine Folge des Traumas? Hatte er sich nicht schon früher bewährt und wurde nun einfach wieder aufgenommen? Ja und Nein. Der Bilateralismus seit 1992 ähnelt zwar der Form nach dem früheren, und trotzdem hat er eine völlig neue Qualität. Das Freihandelsabkommen legte die Zollsenkungen fest und erforderte keine gemeinsamen Institutionen – mit Ausnahme eines gemischten Ausschusses. Die Forschungsabkommen sind als Kooperationsverträge ebenfalls recht einfach. Sobald es aber um den Abbau nichttarifärer Hindernisse geht, kommt es zwingend zu einer Rechtsvereinheitlichung, und damit beginnt der Ärger. Das hatte man beim Versicherungsabkommen am Einzelfall durchgespielt, und nun, beim Quasi-Eintritt in den Binnenmarkt, wurden die damit einhergehenden Probleme massiv.
Der sektorale Bilateralismus war nie als eigenständige Strategie entworfen und durchdacht worden, sondern er bildete eine Ersatzhandlung nach dem Scheitern des EWR. Man hat sich dabei kaum gefragt, welche längerfristigen Konsequenzen es haben konnte, wenn man von der EU immer weitere Abkommen, eine immer umfassendere Marktintegration forderte – und erhielt. Eine Nutzen-Kosten-Abschätzung in jedem Einzelfall unterblieb. Man hat sich ins Getümmel der rasch fortschreitenden Integration gestürzt, ohne sich zu fragen, wie man allenfalls wieder hinauskäme. Erst als dieses Vorgehen von einigem Erfolg gekrönt war, wurde es zur Strategie der „bewährten Bilateralen“ umgedeutet – zwecks Gewinn einiger schwieriger Volksabstimmungen.
Dabei gab es immer wieder Anzeichen dafür, dass man sich auf dünneres Eis begab: Die Gegenforderungen der EU bei den beiden ersten Verhandlungsrunden, die Guillotineklausel, das Beharren der EU auf dem Paketcharakter in der zweiten Runde: damit machte die EU deutlich, dass die Verträge eben doch nicht unabhängige Sektoren beschlugen, sondern das Ganze des Binnenmarktes. Auch der statische Charakter war eigentlich von Anfang an eine Illusion: Die Abkommenstexte machen deutlich, dass sie nur funktionieren können, wenn das Recht homogen bleibt, sich die Schweiz also anpasst. Das hat sie denn in den letzten Jahren auch in grossem Masse getan, nur dass das Publikum eben diesen Souveränitätsverlust kaum merkte. Das Luftverkehrsabkommen unterstellte die Schweiz sogar vollständig dem EU-Recht, inklusive Europäischem Gerichtshof. Nur deswegen konnte ja die Schweiz in Sachen Kloten in Luxemburg vorstellig werden. Das Schenger-Abkommen sieht die Übernahme neuen Rechts vor, andernfalls wird es gekündigt. Auch bei der kantonalen Besteuerung von Spezialgesellschaften (z.B. Holdings) macht die EU ihren Standpunkt deutlich: Sie interpretiert dies als staatliche Beihilfen, die nach dem Freihandelsabkommen verboten wären. Das sei damals nicht so gemeint gewesen, sagt die Schweiz. Die EU erwidert: Damals sei die Schweiz aber auch noch nicht faktischer Teil des Binnenmarktes gewesen. Signifikant auch folgender Streit: Im Zusammenhang mit der Osterweiterung der Freizügigkeit stellte die EU fest, falls die Schweiz diese nicht gutheisse, sei Schengen in Frage gestellt. Grosse Aufregung in der Schweiz – eine Unverschämtheit! Dass Schengen für die EU nur eine Fortsetzung des Rechts auf Freizügigkeit ist, wusste man in der Schweiz offenbar nicht – oder wollte es nicht wahrhaben.
Und hier liegt nun eben der Hase im Pfeffer: Das Trauma und der europapolitische Bann haben nicht nur dazu geführt, dass die Schweiz nun ohne Alternativen dasteht, sondern auch zu einer Verkennung dessen, was man tat. Das Wissen um die Eigendynamik des europäischen Integrationsprozesses – falls und bei wem es je vorhanden gewesen sein sollte – ging verloren, und man konnte sich in der Illusion wiegen, die EU gewähre ohne wirkliche Rechtsintegration beliebig weitgehenden Zugang zum Binnenmarkt und zu ihren Politiken. Oder umgekehrt gesagt: Der Bilateralismus konnte nur deswegen zum scheinbaren Königsweg verklärt werden, weil man all dies ausblendete.
Und umgekehrt ist auch gefahren: Der Erfolg der Bilateralen, also der weitgehend ungehinderte Marktzugang zur EU, hat den wirtschaftlichen Druck weggenommen, über Alternativen nachzudenken. Economiesuisse hat viel in die Abstimmungskampagnen „bewährte Bilaterale“ investiert, und da weitere Abstimmungen kommen, will man dieses „winning horse“ nicht wechseln. Auf der andern Seite ist die Kavallerie von Rechts jederzeit zum Ausreiten bereit, und wo immer sich europapolitisch etwas bewegt, wird draufgehauen. Die Linke hat kürzlich wiederum den Beitritt thematisiert, und trägt so das ihre dazu bei, eine realitätshaltige Europadiskussion zu vermeiden. Eine Änderung könnte einzig von den bürgerlichen Mittelparteien – namentlich also von der FDP, der CVP und der BDP – ausgehen, doch sie sind nicht in der Lage, eine gemeinsame Haltung zu entwickeln. Und je einzeln haben sie eben zu viel Angst vor dem Wolf aus Herrliberg.
Die meisten wissen inzwischen, oder ahnen es zumindest, dass die nächstliegende Lösung des europapolitischen Knotens ein Beitritt zum EWR wäre. Doch schon nur, wenn die Bundespräsidentin diesen in ihrem letzten Brief an „Seine Exzellenz“ Herrn Barroso – über die institutionellen Fragen – erwähnt, lässt die Weltwoche Knallpetarden los. Und viele bürgerliche Politiker tun so als meinten sie, es würde scharf geschossen! Dabei wollte Herr Engeler doch nur spielen!