erschienen in: Schweiz am Sonntag vom 6. Januar 2013
Katz und Maus in der schweizerischen Europapolitik
Vor einigen Jahren erschien ein Buch über die Geschichte der schweizerischen Europapolitik mit dem Titel "Königsweg oder Sackgasse?" Dieser Titel wurde seither oft benutzt, um die Europapolitik unseres Landes zu charakterisieren. Bis vor kurzem waren die meisten davon überzeugt, der Bilateralismus sei der Königsweg, alternativlos. Einzig einige Euroturbos zur Linken wollten mehr und einige Patrioten zur Rechten weniger.
Der „Bilateralismus“ war nach der Ablehnung des EWR durch Volk und Stände im Dezember 1992 keine wohlbegründete Strategie, sondern eine Notlösung, um die Folgen dieses Neins für die Wirtschaft abzuschwächen. Nach langem Zögern war die EU bereit, mit der Schweiz bilateral sektorale Abkommen abzuschliessen. Mit dem Essen kam der Appetit, und in einer ununterbrochenen Folge werden seither immer mehr solche Abkommen abgeschlossen. Damit hat die Schweiz den Fünfer und das Weggli: praktisch ungehinderten Zugang zum grossen EU Binnenmarkt und gleichzeitig eine weitgehend unabhängige Wirtschaftspolitik. Kein Wunder, stellten sich die meisten Parteien und Verbände hinter diesen Weg und gewannen mit dem Schlachtruf „bewährte Bilaterale“ einige schwierige Volksabstimmungen – wie etwa jene über die Personenfreizügigkeit oder den Beitritt zu „Schengen“.
Doch seit einigen Jahren signalisiert die EU - zuerst leise und zurückhaltend, inzwischen fordernd und laut –, dass sie damit nicht mehr einverstanden ist: Wer am Binnenmarkt teilnehme, so moniert sie, müsse alle Regeln übernehmen und sie so interpretieren und anwenden, wie dies in der Union und im EWR gang und gäbe sei. Andernfalls wäre die Schweiz besser gestellt als die Mitgliedstaaten, und das könne ja wohl nicht sein.
Zuerst stellte sich die Schweiz taub und tat so, als verstehe sie nicht, wovon die Rede ist. Es handle sich doch beim „Bilateralismus“ um klassisch völkerrechtliche Abkommen, und bei solchen gebe es weder eine automatische Rechtsanpassung und noch eine supranationale Überwachung. Dann nahm man die Anliegen Brüssels zur Kenntnis, fühlte sich aber nicht bemüssigt, darauf materiell einzutreten. Als die EU insistierte und nicht mehr bereit war, neue Abkommen abzuschliessen, bis diese „institutionellen Fragen“ gelöst seien, machte der Bundesrat im Sommer 2012 einige ungelenke Vorschläge: Überwachung durch eine rein schweizerische Behörde, Anwendung erst einmal nur auf das hängige Stromabkommen, Schiedsinstanz bei Streitfällen. Jedem Kenner der Materie war klar, dass dies nicht das war, was Brüssel wollte.
Damit die Schweiz nicht länger Verstecken spielen konnte, wurde die EU im Dezember deutlicher: Sie forderte einen institutionellen Rahmen, der zum EWR Gleichwertiges sicherstellt: Bei der Rechtsübernahme, der Rechtsprechung und bei der Überwachung der Anwendung. Jetzt war die Katze aus dem Sack, und seither rennen die Mäuse aufgescheucht durcheinander. Die Mutigsten stellen sich auf ihre Hinterpfötchen und rufen zum Widerstand auf: Keinen Fussbreit weichen! Die Ängstlichen klagen über die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen und Brüssels im Besonderen: Wir haben denen doch nichts getan! Die Besonnenen meinen, es würde auch diesmal nicht so heiss gegessen, wie gekocht: Nichtstun sei das Gebot der Stunde. Die Schlauen sind überzeugt, es gebe einen Mittelweg: einen EWR light, einen Bilateralismus plus, jedenfalls eine neue, souveränitätsschonende Sonderanfertigung für die Schweiz. Die meisten aber haben sich in die Mauselöcher verzogen.
Der bilaterale Weg ist eine Sackgasse, das haben inzwischen die meisten begriffen. Steiler und holpriger werde er, meinen die Einen. Die Schweiz müsse sich bewegen, die Andern, „Bilateralismus“ sei bloss noch eine Worthülse die Dritten. Unangenehm ist nur, dass das Ende der Sackgasse nicht eindeutig feststeht. Wäre dies der Fall, würden wir wohl ernsthaft über gangbare Alternativen nachdenken. So aber vergeuden wir die knapper werdende Zeit mit Scheingefechten, Wortspielen, lautem Pfeifen im Walde und Böllerschüssen Richtung Brüssel. Wir wären immerhin der drittwichtigste Handelspartner der EU! Und bei Lichte besehen bräuchten wir gar kein Stromabkommen! Und neues Geld für die Oststaaten komme schon gar nicht in Frage!
Der Bundesrat bleibt offiziell bei seiner bisherigen Strategie. Er stützt sich dabei auf den einzigen positiven Satz in der Brüsseler Stellungnahme: Man sei weiterhin bereit, mit der Schweiz zu diskutieren. Na wunderbar, immerhin! Wer aber den EWR als wohl einzige sinnvolle Möglichkeit auch nur erwähnt, wird kalt geduscht: Das Volk habe Nein gesagt, und dabei bleibe es! Doch aufgepasst: Die Katze lässt das Mausen nicht!