Vom Rütlischwur zum Röstigraben: Der Modellfall Schweiz
Beitrag für das von Stefal Köppl herausgegebene Buch: Was hält Gesellschaften zusammen? Ein internationaler Vergleich. Springer, Wiesbaden, 2013, 35-51
1. Gedanklicher Rahmen
„Was hält Gesellschaften zusammen?“ Eine grosse Frage, faustisch. Als er, Faust, erkennen wollte, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, wandte er sich der Magie zu. Und wir sollen nun ganz ohne Magie, dafür im sauren Schweiss der Wissenschaft, eine Antwort finden! Doch welcher Wissenschaft? Kaum eine, welche dazu nichts beizutragen hätte: von der Soziologie über die Sozialpsychologie bis zur Ethnologie, von der Politologie über die Philologie bis zur Philosophie, vom Recht über die Ökonomie bis zur Geschichte. Nun, da Universalgenies aus der Mode gekommen sind, halten wir uns wohl am besten an das, was wir gelernt haben: Politikwissenschaft, ökonomisches Basiswissen und einige Kenntnisse der Geschichte.
Philosophen, Soziologen und Ethnologen können es allenfalls wagen, über „Gesellschaft als solche“ zu sprechen, über menschliche Grossgruppen, in denen alle Glieder „füreinander kommunikativ erreichbar“ sind (Luhmann 2005: 186). Dem Politologen dagegen stehen Gesellschaften nur als politisch verfasste zur Verfügung. Was das nun genau heisst, ist schwierig zu sagen, denn das Phänomen des Politischen ist schillernd und historisch in permanentem Wandel begriffen (Sternberger 1983). Während die einen Politik mehr oder weniger mit Herrschaftsausübung gleichsetzen, hat der Begriff für die andern eine normative Dimension: Die Verwirklichung einer guten, dem Menschen gemässen Ordnung. Seit dem Aufkommen des Staates im modernen Sinn nach der Renaissance und der Durchsetzung dieser politischen Struktur in Europa im 17. Jahrhundert – man sprich vom „westfälischen System“ (Durchhardt 1999) – gewinnt das Politische eine besser fassbare Form: Dieser Staat eignet sich zunächst das Monopol der legitimen Gewalt und das Monopol der Setzung von allgemeinverbindlichen Normen an. Er entwickelt sich in der Folge zum (Menschen-) Rechtsstaat, zur Demokratie und zum Sozialstaat. Regelnd und steuernd dringt er zunehmend in alle Lebensbereiche ein.
Staat und Gesellschaft entwickeln von da an ein so inniges Verhältnis, dass die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt nun weitgehend mit der Frage nach der Stabilität des Staats gleichgesetzt werden kann: Solange letzterer die ihm zugedachten und jeweils zeitgemässen Funktionen erfüllt, wird in aller Regel „seine“ Gesellschaft“, also das „Staatsvolk“, nicht auseinander brechen. Nur unter diesem Aspekt kann der Politologe zur hier aufgeworfenen Problematik einen sinnvollen Beitrag leisten. Er muss sich also auf Staaten beschränken, die den eben beschriebenen Weg zurückgelegt haben. Zur die Mogulherrschaft in Indien, zum chinesischen Kaiserreich unter der Ming-Dynastie, zu den kurdischen Stammesgesellschaften und den nachkolonialen afrikanische „Staaten“ hat er kaum etwas beizutragen. Diesbezüglich müsste man eher bei den soziologischen Herrschaftstheorien anklopfen (etwa Breuer 1998).
Ohne Zweifel also ist in den von uns betrachteten politischen Systemen der Zusammenhang zwischen der Funktionsfähigkeit des Staates und der Stabilität seiner Gesellschaften äusserst eng. Alle Konfliktlinien und Spannungsfelder, welche eine Gesellschaft destabilisieren können, sind auch Domänen staatlicher Politik: religiöse Auseinandersetzungen, ethnische Spannungen, Klassenkämpfe, Wirtschaftskrisen, Globalisierungsfolgen. Solche Zerreissproben hat jeder Staat schon erlebt, sie traten historisch nacheinander in den Vordergrund oder überlagerten sich, und im Laufe der Zeit haben die Staaten in der Regel Mittel und Wege gefunden, damit umzugehen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu garantieren – oder eben nicht.
Ein funktionierender Staat wird also zum entscheidenden Faktor für die Stabilität von modernen Gesellschaften. Das Problem ist nur, dass diese Erklärung mindestens zirkelschlüssig wenn nicht gar tautologisch ist: Ein guter Staat, in dem Recht und Ordnung herrschen und die Menschen ihrem Glück nachjagen können, wird in der Regel eine Gesellschaft zusammenhalten. Wohlstand und Freiheit haben noch immer die Menschen beruhigt und auf friedliche Bahnen gelenkt. Wohlstand setzt Sparen und Investieren voraus, und dies geschieht nur da, wo der Staat Ordnung, Recht und Eigentum garantiert. Wenn ein politisches System über längere Zeit das friedliche Zusammenleben von verschiedenen Volksgruppen durch Rechtsicherheit und sozialen Ausgleich garantiert, dann werden sich diese aneinander gewöhnen und durchmischen, und damit nimmt die Gefahr ethnischer Konflikte ab. Das alles ist zweifellos richtig und empirisch belegbar, die Krux liegt aber darin, dass wir den funktionierenden, tüchtigen und legitimen Staat dabei voraussetzen. Und da wäre umgekehrt auch gefahren: Kann dieser sich nicht erst da herausbilden, wo die Gesellschaft schon einen bestimmten Grad der Zivilisierung erreicht hat? In diesem Zirkelschluss sind insbesondere diejenigen gefangen, welche in einer „good governance“ den Schlüssel zur Entwicklung von zurückgebliebenen Gesellschaften sehen: Man bemüht sich redlich darum, solchen Staaten anständige politische Regime zu verpassen, und muss dabei meist feststellen, dass letztere nicht „anwachsen“ – Afghanistan ist dafür die jüngste Illustration. Was hier argumentativ zum Zirkelschluss wird, ist eben realiter zirkulär: Es sind komplexe und miteinander verbundene Entwicklungen auf verschiedenen Ebenen, welche „den Prozess der Zivilisation“ und darauf aufbauend den modernen Staat ermöglichen. Und selbst da, wo dies gelungen ist, gibt es keine Ewigkeitsgarantie, wie etwa die Beispiele von Jugoslawien und Belgien zeigen.
Es ist eben noch etwas komplizierter: Die Moderne, auf die wir uns hier beschränken, steht unter dem Zeichen des Fortschritts, des Fortschreitens, der ständigen Veränderung aller Lebensumstände. In diesen Prozessen ist der Staat teils „Täter“, treibt also die Entwicklung voran, und teils „Opfer“, wird von ihr vorangetrieben. Dabei müssen sämtliche Strukturen, Institutionen, Regeln und Wertesystemen immer wieder angepasst und umgebaut werden. Mit der einmal erreichten Stabilität ist es also nicht getan, ganz im Gegenteil: Ein zu starkes Beharren ist der sichere Weg in den Untergang, wie es etwa die DDR vorexerziert hat. Solche Anpassungsprozesse verlaufen teils in ruhigen, gesteuerten Bahnen, teils aber auch chaotisch, revolutionär und gewalttätig. Dass in solchen Zeiten schon bestehende Spannungen zwischen Regionen, Klassen, Religionen und Ethnien aufbrechen, ist sehr wahrscheinlich, und dann stehen Staaten und Gesellschaften plötzlich vor dem Abgrund. So war es bei der k.u.k. Monarchie nach dem ersten Weltkrieg, in Deutschland in den dreissiger Jahren und in der die Sowjetunion in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts.
Aber es gibt eben auch Staaten, welche seit langer Zeit in denselben Grenzen bestehen und über Jahrhunderte eine wiedererkennbare nationale Identität aufweisen. Nun haben auch diese glücklicheren Staaten ihre Krisen und Revolutionen gehabt, aber offensichtlich gelang es ihnen, sich danach wieder zu finden und zu rekonstituieren: Spanien, Frankreich, Grossbritannien, die Niederlande, Dänemark und so weiter. Damit kommen wir nun zu des Pudels Kern des gesellschaftlichen Zusammenhalts: Es geht offenbar nicht vor allem um eine einfache Stabilität, um ein momentan gutes Funktionieren eines Staates, sondern es geht gleichsam um eine Stabilität zweiter Ordnung: Die Fähigkeit von staatlich verfassten Gesellschaften, durch Krisen hindurch eine Kraft, ein Bewusstsein, einen Zusammenhalt zur bewahren, welcher danach den Aufbau einer neuen Ordnung auf einer fortbestehenden Tradition und Identität ermöglicht. „Nichts ist gesünder als eine überwundene Neurose“ lautet das psychologische Analogon.
Damit haben wir jedoch den Teufel der ursprünglichen Frage mit dem Belzebuben einer noch komplizierteren ausgetrieben: Ob es überhaupt möglich ist, die „Mechanismen“, welche eine solche Stabilität zweiter Ordnung aufrecht erhalten, zu objektivieren und in allgemeinen Termini zu fassen, ist sehr fraglich. Wenn wir von glücklichen oder unglücklichen „Schicksalen“ von Völkern sprechen, dann meinen wir damit ja eigentlich nichts anderes, als dass wir mit einer analytisch nicht mehr bewältigbaren Komplexität konfrontiert sind. Und doch gibt es empirische Evidenz dafür, dass einiges mehr zu erkennen ist als die Einzelschicksale: Alle oben erwähnten langfristig stabilen Staaten befinden sich im Westen und Nordwesten des europäischen Kontinents. In der Mitte liegen einige, die erst spät und nach schwersten Verwerfungen zu einer solchen robusten Staatlichkeit gefunden haben, und weiter im Osten sind in den letzten Jahrzehnten nochmals fast alle bestehenden politischen Systeme zusammengebrochen. Das ist natürlich nicht primär ein geographisches Problem, sondern eines des Verlaufs der Modernisierung in der Neuzeit. Aber es kann sei, dass die Nähe zum oder die Ferne vom Meer hierbei eine Rolle gespielt hat. Mit diesen Andeutungen lassen wir jedoch die allgemeine Frage nach der Stabilität zweiter Ordnung auf sich beruhen, denn die entsprechende Forschung ist noch weit von einer akzeptierten Theorie entfernt. Wir wenden uns nun vielmehr einem Land zu, welches offensichtlich über eine solche Stabilität verfügt: Die schweizerische Eidgenossenschaft.
2. Modellfall Schweiz
Da hat einer eine Reise gemacht, und nach der Rückkehr erzählt er von seinen Erlebnissen:
„Das Land kam mir so fremd vor gegen andere teutsche Länder, als wenn ich in Brasilia oder in China gewesen wäre; da sah ich die Leute in Frieden handeln und wandeln, die Ställe stunden voll Vieh, die Bauernhöfe liefen voll von Hühnern, Gäns und Enten, die Strassen wurden sicher von den Reisenden gebraucht, die Wirtshäuser sassen voll Leute, die sich lustig machten. Da war ganz keine Furcht vor dem Feind, keine Sorge vor der Plünderung und keine Angst, sein Gut, Leib und Leben zu verlieren; ein jeder lebte sicher unter seinem Weinstock und Feigenbaum, und zwar, gegen andere teutsche Länder zu rechnen, in lauter Wollust und Freude, also dass ich dieses Land für ein irdisch Paradies hielt, wiewohl es von Art rau genug zu sein schien (Grimmelshausen 1943).“
Dieses irdische Paradies ist die Eidgenossenschaft, der Erzähler ist Grimmelshausens Simplizius und die Reise fand während des Dreissigjährigen Krieges statt (Grimmelshausen 1943, Original 1686). Heute ist die Schweiz wieder ein beliebtes Reise- und Auswanderungsland für die Deutschen, wenn auch aus etwas anderen Gründen! Und die Beschreibung des Landes könnte immer noch ähnlich lauten, man müsste nur das Vieh im Stall durch den Audi in der Garage und die Wirtshäuser durch Foodcorners ersetzen. Aber das Land ist noch als dasselbe erkennbar: „von Art rau“, in ähnlichen Landesgrenzen, mit ähnlicher föderaler Struktur, eine Republik damals wie heute, und selbst der (offizielle) Name ist noch ähnlich: Eidgenossenschaft. Also lauter Stabilität über dreihundertfünfzig Jahre hinweg?
Nichts wäre falscher als diese Vorstellung: Die Geschichte der Eidgenossenschaft strotzt von schweren Konflikten, Bürgerkriegen, Unruhen und Zerwürfnissen. Die politische Hyperstabilität gibt es erst seit einem guten halben Jahrhundert, sie ist ein Resultat der totalitären Bedrohung der dreissiger Jahre. Aber ohne solche Umbrüche wäre die Eidgenossenschaft für uns kein lohnendes Beispiel, denn wir interessieren uns ja für die Stabilität zweiter Ordnung. In unserer Stabilitätsgeographie liegt die Schweiz zudem zwischen Deutschland und Italien, also eher in der Mitte als im Westen. Und zusätzliches Interesse gewinnt sie daraus, dass sie unter verschiedenen Aspekten über eher ungünstige Voraussetzungen für ein langes Leben verfügte: Die Herauslösung aus dem Reich war ein äusserst schmerzvoller und blutiger Prozess. Es gab damals verschiedene solche Bündnissysteme, doch bis auf die Eidgenossenschaft sind alle zerfallen. Die Entwicklung der Schweiz war von inneren Konflikten zwischen Stadt- und Landorten, später zwischen katholischen und protestantischen Kantonen geprägt. Dann wurde das Land durch Erweiterung mehrsprachig und „multikulturell“: Im Westen kamen französisch-, im Süden italienisch- und im Südosten romanischsprachige Gebiete dazu. Bis in die jüngste Zeit lag die Schweiz in der Mitte eines unruhigen, von Kriegen heimgesuchten Kontinents. Sie verlegte sich auf die bewaffnete Neutralität, doch einem ernsthaften Angriff der Grossmächte hätte sie wohl nicht standgehalten. Das Land war zudem „rau“, arm an Rohstoffen, gebirgig und ohne Anschluss ans Meer. Das politische System der Alten Eidgenossenschaft war instabil, ein Bündnissystem, in keiner Weise ein Staat im Sinne der sie umgebenden Herrschaftsgebiete. Das einzige gemeinsame Organ, die Tagsatzung, war mehr eine diplomatische Konferenz denn eine Regierung, Beschlüsse mussten einstimmig gefällt werden. Die Modernisierungs- und Vereinheitlichungsprozesse, welche absolutistische Könige im 17. und 18. Jahrhundert durchführten, fanden in der Schweiz nicht statt, eine einheitliche Nation bildete sich nicht heraus. Das ist nicht gerade der Stoff, aus dem die Träume von einer stabilen Gesellschaft sind!
Aber vielleicht wird anders herum ein Schuh draus: Hätten etwa gerade die Prekarität und das Bewusstsein der Verletzlichkeit die Schweizer dazu gebracht, dem gesellschaftlichen Zusammenhalt eine Beachtung zu schenken, welche „robustere“ Nationen nicht nötig zu haben glaubten? Hätte die Schweiz also aus ihren Schwächen ihre Stärke gemacht – analog zu Gehlens „Mängelwesen“ Mensch? Oder noch anders gesagt: Wenn die Schweizer einmal gelernt hatten, wie ein aus ihren vielen Schwächen entstehendes Problem gelöst werden konnte, dann bewahrten sie daran die Erinnerung und bauten so einen „ewigen“ Satz oder Schatz von Konfliktbewältigungsmechanismen auf. Das hiesse aber, sie wäre doch eher ein Sonderfall denn ein Modellfall, interessant vielleicht als exotisches Wesen, doch kaum lehrreich für andere. Oder gibt es Bedingungen, unter denen ein Sonderfall doch zum Modellfall wird? 1976 hatte Karl Deutsch in Zürich einen Vortrag gehalten, welcher unter dem Titel „Die Schweiz als ein paradigmatischer Fall politischer Integration“ bei Haupt in Bern publiziert wurde. Was kann nun dieses „paradigmatisch“ bedeuten? Sicher nicht dasselbe wie „Paradigma“ bei Kuhn, also ein zu einer bestimmten Zeit in der Wissenschaft vorherrschende Denkmuster. Auch normativ war es wohl nicht gemeint – die Schweiz als nachahmenswertes Vorbild –, denn das hätte nicht der philosophischen Position Deutschs entsprochen. Wenn wir aber beachten, dass er ein hervorragender Theoretiker der sozialen und politischen Integration war, dann kann „paradigmatisch“ nur bedeuten, dass die Schweiz seine Ansichten und Erkenntnisse in deutlicher Weise illustrierte, dass sie dafür als Muster dienen konnte. Auch wenn wir hier im Übrigen nichts Deutschs Integrationstheorie folgen, so meinen wir doch „Modellfall“ ähnlich wie er: Dass die Schweiz, trotz aller Spezifika und Idiosynkrasien für bestimmte Erfahrungen steht, welche in ihrem Kern verallgemeinerbar sind. Oder nehmen wir die Aussage noch etwas weiter zurück: Es kann für andere Länder lehrreich sein, deren eigenen Erfahrungen und Geschichte mit der Schweiz zu vergleichen.
Wir werden einen kurzen Abriss der Geschichte der Eidgenossenschaft geben, indem wir auf einige Episoden eingehen, welche für ihre langfristige Stabilität wichtig sind, also Wirkungen bis in die Gegenwart entfalten. Und dies nicht nur hinter dem Rücken der Akteure: Es handelt sich durchaus um „lessons learnt“, die den Eidgenossen als solche bewusst geworden sind und regelmäßig wieder aufgerufen oder aktualisiert werden. Was aber lernbar ist, kann nicht der reine Sonder- und Ausnahmefall sein.
2.1 Vorgeschichten
Wir haben gesagt, dass uns der Staat eigentlich erst ab dem 17. Jahrhundert interessiert. Doch es gibt wohl auch die „longue durée“ im Sinne von Braudel und der Ecole des Annales. Deswegen, in aller Kürze, einige Anmerkungen zur Vorgeschichte der neuzeitlichen Eidgenossenschaft.
Da wollten die Helvetier, ein keltisches Volk, eben nach Südfrankreich auswandern, denn ihr Land war nach Art rau, doch bei Bibrakte trat ihnen Cäsar entgegen, siegte und drängte sie in ihr abgestammtes Land zwischen Jura und Alpen zurück. Dann war da weiter östlich noch das eigenartige Volk der Räter oder Rätier, deren Gebiet ebenfalls von den Römern erobert wurde. Für einige hundert Jahre war also die spätere Schweiz Teil des damals am höchsten entwickelten politischen Systems. Schon im Altertum wurden also keltischen die Stammesgesellschaften überwunden, indem diese Völker unter das römische Recht kamen – im Gegensatz zu grossen Teilen des spätern Germanien. In der Spätantike wanderten dann die germanischen Völker der Alemannen und der Burgunder in diese Gegend ein. Schon im vierten Jahrhundert begann die Christianisierung. Später kam das Gebiet unter fränkische Herrschaft. Das Territorium der Eidgenossenschaft hat also von der Antike bis ins Mittelalter ein, wenn man so will, „normales“ westeuropäisches Schicksal durchlaufen.
Die Gegend lag nach den Reichsteilungen im 9. Jahrhundert in der „Schütterzone“ zwischen dem deutschen und dem französischen Reich: Teils lotharingisch und später burgundisch, teils alemannisch und schwäbisch. Von 1291 stammt ein wichtiges Abkommen zwischen den drei Waldstätten Uri, Schwyz und Unterwalden, und im selben Jahr soll nach der Sage der Rütlischwur stattgefunden haben. Im Laufe von drei Jahrhunderten – vom 14. bis zum 16. – haben sich die Eidgenossen dann aus dem deutschen Reich gelöst, indem sie gegen die Habsburger und mit ihnen verbündete Fürsten einige Schlachten gewannen. Die ersten Bewährungsproben des Bündnisses waren also militärischer Art, und weil es dabei erfolgreich war, wollten sich ihm immer mehr kleine, republikanische Städte- und Landorte anschliessen. Mitte des 14. Jahrhunderts bestand die Eidgenossenschaft schon aus acht Kantonen. Als Karl der Kühne von Burgund im 15. Jahrhundert nochmals ein grosses Mittelreich errichten wollte, stiess er mit den Eidgenossen zusammen und unterlag in drei Schlachten. Von da erstreckte sich die Schweiz auch auf Französisch sprechende Bevölkerungen mit erheblich anderen Mentalitäten als die Innerschweizer Bauern. Mit dem „Schwabenkrieg“ von 1499 verlor der Kaiser seine Herrschaft über diese Territorien faktisch vollständig, auch wenn sie „de jure“ noch zum Reich gehörten. Anfang des 16. Jahrhunderts waren dann schon dreizehn Kantone im eidgenössischen Bündnissystem zusammengeschlossen. Im Westfälischen Frieden entstand, wie erwähnt, das moderne europäische Staatensystem. Obwohl der Eidgenossenschaft fast alles fehlte, was frühabsolutistische Staaten auszeichnete, wurde sie als souveränes Herrschaftsgebiet anerkannt. Soweit diese kurze Vorgeschichte. Nun kommen wir zu den „lessons learnt“.
2.2 „Stille sitzen“
Für die erste solche Episode, deren Lehren bis heute weiterwirken, müssen wir kurz noch einmal ins 16. Jahrhundert zurückgreifen. Die Schweizer hatten sich im Spätmittelalter einen guten Ruf als Soldaten erworben: Gegen Landvögte, Herzöge, gegen König und Kaiser. Der Anteil der „waffenfähigen“ Männer war wohl größer als in jedem andern Land. Da nun der Boden karg war, stellten sich viele junge Schweizer den europäischen Fürsten und dem Papst als Söldner zur Verfügung – gegen gutes Geld natürlich. (Von daher kommt der Spruch: Ni argent – ni Suisses!) Doch im 15. Jahrhundert begann nun die Eidgenossenschaft selbst, Machtpolitik zu betreiben, und das damalige „grand jeu“ fand in der Lombardei statt. Es zeigte sich aber, dass die Zürcher andere Interessen hatten als die Berner, und die Innerschweizer nicht dieselben wie die Walliser. Die Tagsatzung war nicht in der Lage, eine gemeinsame Außenpolitik zu entwickeln. Und dann kam es, wie es nicht hätte kommen dürfen: In der Schlacht bei Marignano standen 1515 Schweizer Soldaten auf beiden Seiten und brachten sich gegenseitig um.
Daraus zog die Eidgenossenschaft die Konsequenz, sich nicht mehr im fremde Händel zu mischen, „stille zu sitzen“ in allen sie umgebenden Konflikten. In modernen Termini hat sie sich also schon damals der Neutralität verschrieben. Sie hat die Neutralität mit andern Worten nicht gewählt, weil sie keine starke Armee und keine außenpolitischen Interessen hatte, sondern weil sie aus institutionellen Gründen unfähig war, eine gemeinsame Außenpolitik zu betreiben – oder, anders gesagt, weil Außenpolitik zu internen Spaltungen führte. Neutralität ist somit historisch gesehen vor allem eine Devise zur Wahrung des inneren, nicht des äußeren Friedens. Dieses Stille-Sitzen bewährte sich dann besonders im dreißigjährigen Krieg, denn sonst hätte sich Simplizius nicht hierzulande unter Feigenbäumen erholen können, und die Eidgenossenschaft wäre vermutlich zerbrochen. Aus allen dynastischen Kriegen des 17. und 18. Jahrhunderts konnte sie sich ebenfalls heraushalten. Schweizerische Söldner kämpften zwar auf verschiedenen Seiten, doch inzwischen handelte es sich dabei um „privaten Dienstleistungsexport“. Der erste, der seit 1499 das Land der Eidgenossen angriff, war dann Napoleon. Er hatte leichtes Spiel, denn das völlig veraltete „ancien régmie“ war nicht in der Lage, eine entschlossene Verteidigung zu leisten. Nach 1815 blieb die Schweiz dann wieder von allen Kriegen verschont.
Vor dem ersten Weltkrieg kam es allerdings zu inneren Spannungen, denn die Deutschschweizer – und allen voran ihre Offiziere – nahmen eher für Wilhelm Partei, die Welschen dagegen für Frankreich. Man lud den deutschen Kaiser sogar zu Manövern ein, und in der Armee wurde von den höheren Offizieren mehr und mehr Hochdeutsch an Stelle der üblichen Dialekte gesprochen. Dies führte zu gefährlichen Spannungen zwischen der Deutsch- und der Welschschweiz. Carl Spitteler, ein hoch angesehener Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger, hielt vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft seine berühmt gewordene Rede: „Unser Schweizer Standpunkt“. Er rief den Eidgenossen einige Grundlagen unseres Staatswesens in Erinnerung, darunter insbesondere, dass wir uns nicht in fremde Händel mischen sollen. Dies hinterliess einen tiefen Eindruck und versöhnte die verschiedenen Landesteile wieder miteinander. Gemeinsam stand man dann zur Verteidigung an der Grenze. Übrigens: Dass der deutsche Angriff über Belgien und nicht durch das schweizerische Mittelland oder den Jura erfolgte, hat möglicherweise auch mit des Kaisers Manöverbesuch zu tun: Es schien ihm offenbar militärisch einfacher, die „Variante Nord“ zu wählen.
Dass also die Schweiz keine aktive Außen- und Bündnispolitik betreiben soll, weil sie sonst die inneren Gleichgewichte gefährdet, wirkt bis heute fort. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die „integrale Neutralität“ zur Leitdoktrin und führte dazu, dass die Schweiz in den ersten Jahrzehnten eine weitgehende politische Isolation wählte. Die Abstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum von 1992 hat zu starken innenpolitischen Spannungen geführt, denn die Westschweiz neigte dieser Annäherung viel stärker zu als die Zentral- und die Ostschweiz. Man sagte, der „Röstigraben“ sei weit aufgerissen worden. Wie weit, kann man daran ermessen, dass dieses Kartoffelgericht zu beiden Seiten der Sprachgrenze etwa gleich beliebt ist! Und wenn die Schweiz Mitglied der EU wäre, dann hätten wohl manche ihrer Politiken und Aktionen in der Schweiz zu Spannungen zwischen den Landesteilen geführt – man denke etwa an das Österreich-Bashing im Jahre 2000, die „Old-Europe“-Debatte von 2003 oder die Auseinandersetzung über die Bolkensteinrichtlinie von 2006. Und man stelle sich vor, der Lissabonner-Vertrag würde an einem Nein von Appenzell-Innerrhoden scheitern!
2.3 Sprachenfrieden
Das Gebiet der Eidgenossenschaft war seit jeher Kreuzungspunkt von Verkehrs- und Wanderungsachsen und beherbergte verschiedene Völkerschaften. Bei den Reichsteilungen im 9. Jahrhundert gehörte das Gebiet, wie erwähnt, teils zum lotharingischen – später burgundischen – und teils zum deutschen Reich, wobei die Habsburger und die Zähringer eine zentrale Rolle spielten. Letztere starben im 13. Jahrhundert aus. Die Eidgenossenschaft lag zu Beginn ganz auf dem Gebiet des deutschen Reiches, doch durch die Siege gegen Burgund im 15. Jahrhundert kamen nun auch Französisch sprechende Völker dazu. In den „ennetbirgischen Kriegszüge“ des 15. Jahrhunderts eroberten die Eidgenossen südliche, Italienisch sprechenden und vormals mailändische Alpentäler. Rätoromanisch wurde in den drei Bünden gesprochen, welche „zugewandte Orte“ der Eidgenossenschaft waren und erst unter Napoleon ganz zur Schweiz geschlagen wurden.
Dass im eidgenössischen Herrschaftsbereich verschiedene Sprachen gesprochen wurden, war also schon früh eine Selbstverständlichkeit, und die verschiedenen Kulturen und Traditionen wurden respektiert. Es gab nie eine Politik der Durchsetzung einer Einheitssprache – wer hätte solche Massnahmen auch durchführen sollen? Vom zweisprachigen Freiburg, welches im 15. Jahrhundert in den Bund aufgenommen wurde, verlangte man nur, dass die Ratsprotokolle auch in deutscher Sprache verfasst werden mussten. In den französisch- und italienischsprachigen Untertanengebieten konnte die dortigen Menschen immer in ihrer Muttersprache mit den Behörden und den Gerichten verkehren. In Bern, welches das zuvor savoyische Waadtland beherrschte, sprach die Oberschicht ohnehin Französisch, und die Urner, Schwyzer und Unterwaldner waren des Italienischen aus „handelspolitischen“ Gründen mächtig: Sie verkauften Käse und Vieh auf den oberitalienischen Märkten. Und da jeder Deutschschweizer Kanton in seiner Art, Kultur und Sprache selbständig bleiben wollte, versagte man dies auch den Völkern nichtdeutscher Idiome nicht. Im Gegenteil: Die Vielfalt, welche die Schweizer über alles schätzen, wurde damit gesteigert und gefestigt, die Gefahr des Aufbaus einer Zentralmacht vermindert.
Kurzzeitig kam bei der Verfassungsgebung von 1848 auch die Frage auf, welche Sprache denn nun die Nationalsprache sein sollte. Doch hatten die liberalen Staatsgründer dringendere Probleme zu lösen, und sie schrieben dann einfach als Artikel 109 in die Verfassung: „Die drei Hauptsprachen der Schweiz, die deutsche, französische und italienische, sind Nationalsprachen des Bundes“. Und damit war insoweit die „nationale Frage“ gelöst. Während in andern Ländern die Einheitlichkeit des (Sprach-) Volkes zur Basis des modernen Staates wurde, wurde es in der Schweiz die Verschiedenartigkeit. In schwerer Zeit, 1938, wurde dann auch das Rätoromanische als Landessprache anerkannt. Wenn es zu Sprachkonflikten kommt, dann meistens in den zwei- oder dreisprachigen Kantonen, und sie zu lösen, überlässt man, im Sinne der Subsidiarität, ihnen. Auf Bundesebene wird die Viersprachigkeit fast ausschliesslich als Positivum wahrgenommen.
Wir können diese Differenz zu andern Staaten noch an folgendem Beispiel illustrieren: Die Comunidad autónoma Catalunya war bekanntlich 2007 Gast an der Frankfurter Buchmesse. Und, obwohl es in dieser Provinz viele Schriftsteller gibt, die spanisch schreiben, haben einige Puristen durchgesetzt, dass nur solche, die katalanisch veröffentlichen, an den Main eingeladen wurden. Einer dieser Hohepriester hat sich in „El Pais“ wie folgt vernehmen lassen: „Ein Land wie die Schweiz“ werde schon deshalb nie und nimmer nach Frankfurt eingeladen, „weil es als mehrsprachige Nation in kultureller Hinsicht nicht existiert.“ Anstatt draufloszuschwafeln, kommentiert die NZZ, hätte er leicht in Erfahrung bringen können, dass sich die Schweiz 1998 mit allen vier Landessprachen an der Buchmesse präsentiert hat. Wenn die Berner in der Waadt die französische Sprache ebenso unterdrückt hätte wie Franco das Katalanische, sähe es in der Schweiz natürlich auch anders aus.
2.4 Lust auf Differenz
Dass die Verschiedenartigkeit das Lebenselement der Schweizer ist, haben wir nun schon deutlich hervorgehoben. Jetzt müssen wir aber noch zeigen, wie dies institutionell abgesichert wurde und wird. Die Alte Eidgenossenschaft war ein Staatenbund, eine Konföderation, mit äußerst schwach ausgeprägten zentralen Einrichtungen. Niemand wollte damals einen „neuen Staat“ schaffen – solches wäre im Spätmittelalter ohnehin denkunmöglich gewesen. Man schloss sich zusammen – innerhalb des Reiches –, um die alten kaiserlichen Freiheiten zu verteidigen, oder konkreter, um die Eingliederung in den habsburgischen Herrschaftsbereich zu verhindern. Außerdem sollte das Bündnis Konflikte zwischen den Orten schlichten und die „innere Sicherheit“ befördern. Sonst aber blieb jeder Kanton „souverän“ und wählte die politische Organisation, die seinen Traditionen am besten entsprach – vorausgesetzt sie war republikanisch.
Allerdings erwies sich dieses unübersichtliche Bündnissystem – eine gemeinsame Verfassung gab es ja nicht – im 18. Jahrhundert zunehmend als ungeeignet, den Anforderungen der Zeit zu genügen. Insbesondere die mit dem Aufkommen der Industrialisierung erforderlichen größeren offenen Wirtschaftsräume waren so nicht zu schaffen. Diese Rückständigkeit im Vergleich zu den absolutistischen Staaten war einer der Gründe, warum Napoleon bei seinem Einmarsch in die Schweiz 1798 leichtes Spiel hatte. Er gab der Schweiz eine neue, einheitsstaatliche aber immerhin republikanische Verfassung. Doch diese „Helvetik“ bewährte sich nicht, Napoleon sah ein, dass die Schweizer zu einer „nation une et indivisible“ nicht geschaffen waren. Schon 1803 gab er ihnen deshalb die Mediationsakte, welche den Föderalismus restaurierte – was dem politischen Gespür des Korsen kein schlechtes Zeugnis ausstellt!
Nach dem Wiener Kongress begann auch in der Schweiz eine restaurative Phase, doch die Kräfte der Erneuerung wurden rasch wieder stärker und drängten auf Veränderung. Ab den dreißiger Jahren arbeiteten liberale und radikale Kräfte an modernen Verfassungen – zuerst in den Kantonen, dann im Bund. Die konservativen und katholischen Stände wollten keine solchen Neuerungen und schlossen sich in einem Sonderbund zusammen, der mit ausländischen Mächten zu paktieren begann. Manu militari wurden sie dann zur Räson gebracht. Doch die neue Bundesverfassung wurde sehr föderalistisch ausgestaltet, sie gab dem Bund nur ein Miniumum an Kompetenzen und den Kantonen ein Maximum an Einfluss. Zwei wichtige Ziele wurden allerdings erfüllt: Die Armee war nun weitgehend Sache des Bundes, und die Handels- und Gewerbefreiheit wurde eingeführt – es entstand in Ansätzen ein gesamtschweizerischer Wirtschaftsraum. Mit andern Worten: Es gelang den Vätern der Verfassung, sich exakt auf der Grenzlinie zwischen dem alten Staatenbund und einem modernen, einheitlicheren Staatswesen zu bewegen.
Um die Selbständigkeit der Kantone zu wahren und gleichzeitig den Gesamtstaat funktionsfähig zu machen, übernahm die Schweiz damals das amerikanische Zweikammersystem: Zwei genau gleichberechtigte Räte, eine Volks- und eine Ständekammer. Im „Nationalrat“ sind die kantonalen Völker gemäss ihrer Grösse vertreten, im „Ständerat“ hat jeder Stand die gleiche Stimmkraft. Der Ständerat besteht nicht aus Mitgliedern der kantonalen Regierungen, sondern aus eigens dafür gewählten Senatoren. Für die Veränderung der Verfassung sind die (einfachen) Mehrheiten des Volkes und der Stände nötig. Dies verschaffte den kleinen und (katholisch-) konservativen Bergkantonen einen überproportionalen Einfluss. Im Laufe der Zeit nahmen die Befugnisse des Bundes zwar zu, doch nicht vor allem deshalb, weil bisherige Kantonskompetenzen an ihn übertragen wurden, sondern weil neue Aufgaben entstanden (Freiburghaus/Buchli 2003). Doch noch heute haben die Kantone eine vollständige staatliche Ausstattung und einige zentrale Aufgaben. Der Bund ist nicht befugt, in ihre Organisationshoheit einzugreifen, und die Erhebung von Steuern ist primär immer noch ihre Sache: Dem Bund werden Einkommenssteuerkompetenzen bis heute immer nur provisorisch gewährt. Ausserdem hat der Bund kaum eigene Vollzugsorgane, dafür sind in der Regel die Kantone zuständig, wobei sie meist beachtliche Spielräume geniessen. Da es viele kleine und relativ arme Kantone gibt, legt dies jeglichem Gesetzgebungsperfektionismus des Bundes kurze Zügel an. Trotz aller Zentralisierung ist die richtige Antwort auf die Frage des Ausländers, wie dieses oder jenes in der Schweiz geregelt sei, meist: „Das ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich“.
Dass auf diesem kleinen Gebiet – Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen haben je mehr Einwohner als die Schweiz – der Föderalismus so ausgeprägt geblieben ist, hat teils institutionelle und teile mentalitätsmässige Gründe. Institutionell ist eine wichtige Differenz zu Deutschland und der EU, dass die kleine Kammer eben nicht aus Mitgliedern der Regierungen der Gliedstaaten zusammengesetzt ist, denn letzteres führt zu Kuhhändeln zwischen den Exekutiven beider Ebenen: Eine Länderregierung ist eben eher bereit, auf eine Prärogative zu verzichten, wenn sie dafür im Bund mehr Macht erhält (Freiburghaus 1995). Die Präferenz der Eidgenossen für Unterschiedlichkeit haben wir schon erwähnt. Sie wird natürlich nur soweit wirksam, als die Bürger bereit sind, um dieser Differenzen Willen bedeutende Nachteile in Kauf zu nehmen. Wer im einen Kanton wohnt und im andern ein Ferienhaus besitzt, weiss davon bezüglich Besteuerung ein Lied zu singen! Und es setzt voraus, dass kantonale Steuersatzdifferenzen von zwischen 70 bis 120 Prozent nicht zur Entvölkerung der „Steuerhöllen“ führen.
Oft wird der Sprachenfrieden in der Schweiz vor allem mit dem Föderalismus begründet und dann einem Staat wie Bosnien der Rat gegeben, sich ebenso zu organisieren. Doch so ist es eben nicht: Schon als die Eidgenossenschaft noch rein deutschsprachig war, war sie extrem föderal: Es ging um die Bewahrung jeder Form eigenständiger Tradition und Kultur. Und so ist es bis heute: Die Sprache ist ein Element unter anderen, welche man eigenständig im Kanton und nicht gleichförmig im Bund geregelt haben möchte. Immerhin gibt es auch zwei- und dreisprachige Kantone. Diese Lust auf Verschiedenheit – im Gegensatz zum Verlangen nach „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ – ist wohl die wichtigste Wurzel des schweizerischen Sonderfalls.
2.5 Versöhnlichkeit
Da Streit, wie gesagt, für die Entwicklung einer Gesellschaft notwendig ist, hängt deren Stabilität auch von der Fähigkeit zur Versöhnung ab. Dies gilt nun für ein Land wie die Schweiz ganz besonders, da die verschiedenen Verschiedenartigkeiten natürlich auch immer wieder Anlässe zu Missverständnissen und Streit waren – und sind. Streit kann man aber nur wagen – und förderlich verwenden –, wenn man sicher ist, sich danach wieder an einen Tisch setzen zu können. „Man muss halt reden miteinander“ ist ein sehr verbreiteter Wahlspruch, ja ein normativer Anspruch in der Schweiz.
Wie steht es hier mit der „longue durée“? Wir haben gesagt, dass Streitereien bis zum Bruder- und Bürgerkrieg die Geschichte der Schweiz begleiteten. Doch ebenso gibt es Ereignisse, Geschichten, Mythen, welche vom Geist der Versöhnung handeln. Sie reichen bis auf Bruder Klaus, den späteren Heiligen Niklaus von der Flüe zurück, welcher 1482 die Eidgenossenschaft vor dem Zerfall bewahrte, indem er zum Ausgleich zwischen den Stadt- und den Landkantonen aufrief. 1529 fand ein Konfessionskrieg statt, in dessen Verlauf – und während die Anführer verhandelten – dass Fussvolk beider Seiten während einer Schlacht eine gemeinsame Suppe kochte und aus einem Topf ass: Die Kappeler Milchsuppe. Ob dies auch die Geburtsstunde des „Fondue“ war, darf dagegen bezweifelt werden. Doch entscheidend wurde dann diese Tugend der Versöhnlichkeit 1847/48: Immerhin wurden einige katholische Kantone mit militärischer Gewalt an der Bildung ihres Sonderbundes gehindert und in die entstehende moderne Schweiz eingegliedert. Doch alle wussten, dass man danach wieder zusammenleben musste, und so wurde dieser Krieg sehr schonend geführt: Es gab 86 Tote! Dass die Sonderbundskantone anfänglich in steter Opposition zum Bund standen, ist selbstverständlich. Doch binnen eines halben Jahrhundert wurden sie mit ihm versöhnt, und dafür gab es verschiedene Gründe.
Der erste war natürlich der ausgeprägte Föderalismus, der den Kantonen die meisten staatlichen Kompetenzen beliess – insbesondere die Schul- und Kirchenpolitik. Die Liberalen hätten natürlich gerne eine einheitliche und fortschrittliche Schulpolitik und ein laizistisches Staatswesen gehabt, aber sie opferten diese Anliegen dem inneren Frieden. Wir haben es schon gesagt: Ein starker Nationalismus konnte in der Schweiz nicht gedeihen. Doch musste sich der junge Bundesstaat, umgeben von einheitlicheren Nationen, auch seine nationale Identität schaffen. Und hier wurde nun, wie anderswo auch, auf die Geschichte zurückgegriffen, und zwar natürlich auf die vorreformatorische. Doch in dieser eidgenössischen Frühgeschichte hatten eben die nachmaligen Sonderbundskantone die zentrale Rolle gespielt: Rütli, Tell und die ganzen Helden, Bergbauern allesamt, und eben Niklaus von der Flüe. Das heisst, die Radikalen der Stadtkantone hatten die Herrschaft, die Konservativen der Bergkantone stellten die Mythen, und ein deutscher Dichter schenkte den Schweizer ihr Nationalepos und ein italienischer Komponist hat es vertont! So funktioniert Schweizer Nationalismus! „Wie aus den Schwyzern Schweizer wurden“ hat Tamara Münger dargestellt (2002).
Die „Versöhnlichkeit“ wurde dann mehr und mehr institutionalisiert. Die verschiedenen Parteien (Konservative, Bauern und Gewerbe, Sozialisten) wurden eine nach der andern in die Bundesregierung aufgenommen. Die Klassenkämpfe waren in den zwanziger Jahren noch heftig, doch 1937 wurden sie durch das Friedensabkommen in der Metallindustrie überwunden: Es sorgt bis heute für den sozialen Frieden. Die Bundesregierung blieb ein Kollegialorgan, welches politisch vielfarbiger wurde. Seit 1958 gilt der ungefähre Proporz der grossen Parteien – die „Zauberformel“ –, was bedeutet, dass ständig über achtzig Prozent der Bevölkerung in der Regierung vertreten sind. Die meisten Bundesgesetze werden im Parlament mit ebenso hohen Ja-Anteilen verabschiedet. Man spricht vom Konkordanzsystem. Der Geologe definiert Konkordanz übrigens als „die ungestörte Lagerung jüngerer Schichten auf älteren“.
2.6 Machtbegrenzung
Der moderne Staat hat eine historisch einmalige Machfülle, und dies ist eine Voraussetzung der Modernisierungsprozesse. Dieser Staat hat Züge eines Leviathan. Damit stellte sich nun die Frage, wie er daran gehindert werden konnte, diese Macht zu missbrauchen. Nur da, wo die Mechanismen der Kontrolle und Einschränkung, der „checks and balances“ mit der Zunahme seiner Machtmittel Schritt hielten, wurde dieser Staat ein Segen für die Menschen. Dieses Gleichgewicht steht nie ein für allemal fest, denn es geht um einen Trade-off zwischen Effizienz und Legitimität. Die Schweizer haben nun in der Regel – von Kriegszeiten abgesehen – der Legitimität vor der Effizienz den Vorzug gegeben, sie haben die Kontrollmechanismen der Macht bis zum Exzess ausgebaut. Vom Föderalismus und von der Bewahrung der Differenzen haben wir gesprochen, von den äusserst schwach ausgeprägten Institutionen der Alten Eidgenossenschaft ebenfalls. Auch die ständige grosse Koalition und die übrigen Elemente der Konkordanz bedeuten die Verhinderung der Entstehung starker Machzentren.
Die Schweiz war seit jeher eine Republik – wie Venedig – und wollte es bleiben. Gegen alle Formen adliger Herrschaft hat sie sich zur Wehr gesetzt. Es gab zwar städtisches und ländliches Patriziat, doch dieses gründete nicht auf Adelstitel des Reichs, sondern, zumindest den Erzählungen nach, auf Verdiensten um die entsprechenden Gemeinwesen – es war gleichsam meritokratisch. Natürlich waren die Alten Orte keine lupenreinen Demokratien, doch waren hierzulande immer mehr Menschen am „Politikmachen“ beteiligt als anderswo. Landbesitz war verbreitet, und die Bauern wurden schon früh zu einem geachteten Stand. Jeder Kanton hatte ein anderes politisches Regime und achtete darauf, es zu erhalten. Das hiess aber auch, es entstand nie eine Adelshierarchie, es gab keine Königshöfe, es gab keine Hauptstädte, in denen sich Macht, Geld und Kultur konzentrierten. Eine eidgenössische Elite bildete sich erst im 19. Jahrhundert heraus, doch sie blieb immer offen für tüchtige Leute und passte sich in ihrem Habitus dem vorherrschenden Kleinbürgertum an. Sich vom Volk abheben zu wollen, ist der sicherste Weg, politisch keine Karriere zu machen. Wenn es ein Ideal ist, dass jede zufällig ausgewählte Gruppe von Bürgern das Regiment übernehmen können sollte, dann gibt es wohl kein Land, welches ihm so nahe kommt wie die Schweiz.
Wir haben die direkte Demokratie nicht deswegen bisher unerwähnt gelassen, weil wir sie gering achten, sondern weil sie nur ein Ausdruck dieser schweizerischen Vorstellung eines Bürgerstaates ist – ebenso wie wir im Föderalismus nur der Ausdruck der Präferenz für Diversität sehen. Aber natürlich ist die direkte Demokratie, in der letztlich das Volk zu allem und jedem nicht nur seine Meinung abgeben, sondern entscheiden kann, der deutlichste Ausdruck der Machtkontrolle. Dabei ist es keineswegs so, dass die Schweizer meinen, sie könnten sich direkt selbst regieren: Wie anderswo auch, wird der grösste Teil dieses mühsamen Geschäfts der „classe politique“ überlassen. Nur wird diese eben genauer und wirksamer kontrolliert als anderswo. Das Volk ist eines von vielen Machtzentren, welche sich gegenseitig in Schach halten. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die direkte Demokratie nicht nur eine Einrichtung des Bundes ist, sondern zuerst in den 3000 Gemeinden und den 26 Kantonen funktioniert und da ihre „Kinderstube“ hat. Und nur deswegen kann sie auch auf der Bundesebene ihre wohltätigen Wirkungen entfalten und die Eliten daran hindern, elitär zu werden (Freiburghaus 2008). Und das Volk muss aus kleinen Fehlern in der Gemeinde lernen, die grossen auf Bundesebene zu vermeiden.
Diese extrem ausgebauten Kontrollmechanismen haben ihren Preis: Es sind nur langsame, inkrementale Veränderungen möglich. Jede Gesetzbebung dauert zehn Jahre, und eine grössere Strukturveränderung – wie die Föderalismus- und die Totalrevision der Verfassung – fünfundzwanzig (Freiburghaus/Buchli 2003). Darin zeigt sich die Präferenz für Legitimität gegenüber Effizienz. Dass die Schweiz trotzdem funktioniert und in kaum einer Beziehung in ihrer Entwicklung hinter andern Staaten nachhinkt, hat mit folgenden entgegen wirkenden Elementen zu tun: Was nach langer Debatte beschlossen ist, ist auch schon breit akzeptiert, und man holt bei der Umsetzung die „verlorene“ Zeit wieder ein. Der Föderalismus ist ein Labor, in welchem ständig verschiedene Lösungen erprobt werden: Das Neue ist dann nicht neu, sondern eher eine Ausdehnung des schon Bewährten auf das ganze Land. Die Subsidiarität wird in der Schweiz hochgehalten, der Bürger, die Gemeinde, der Kanton wollen sich möglichst wenig unterordnen. Sie sind dann aber auch bereit, verschiedene Lasten der Modernisierungsprozesse selbst zu tragen. Kein Land wird so wenig für die Rettung einer untergehenden Industrie tun, wie die Schweiz. Damit wird der Staat aber auch entlastet, er kann sich auf relativ wenige wichtige Aufgaben konzentrieren. Es ist interessant, dass die Schweizer sich zur Globalisierung vergleichsweise positiv einstellen, obwohl sie ihr Staat vergleichsweise am wenigsten vor ihr schützt!
Mit andern Worten: Diese tiefe Bürgerlichkeit des Schweizerischen Staatsweswesens hat es jederzeit vor Machtabenteuern geschützt. Dass es damit auch zu grossen Schritten und Plänen unfähig ist, ist die Kehrseite der Medaille. Der EU beizutreten, gehört offenbar bisher in die Kategorie solcher Unmöglichkeiten.
3. Fazit
Aus diesen Beispielen lassen sich drei generellere Aussagen über die Stabilität der Schweiz destillieren: Es ist in der Tat so, dass es ihr immer wieder gelang, aus Schwächen – im Vergleich zu andern Staaten – Stärken zu machen: Das rohstoffarme und Meerferne Land musste mehr Handel treiben, um zu Wohlstand zu kommen. Der Kleinstaat duckte sich weg, wenn die Grossen tanzten. Die ethnische Vielfalt musste vom Problem zur innovativen Ressource gemacht werden. Zweitens ist es gelungen, zwischen Mentalitäten und kulturellen Vorgaben einerseits und den politischen Institutionen andrerseits eine Korrespondenz herzustellen: Die Diversitätspräferenz findet im Föderalismus und in der Gemeindeautonomie ihren Ausdruck, die Eliteskepsis in der Republik und in schwachen Regierungen, die Tradition der Versöhnlichkeit im Konkordanzsystem. Und drittens: Diese verschiedenen Elemente stützten sich gegenseitig: Die direkte Demokratie wäre nicht denkbar ohne die Gemeindeautonomie; die Konkordanz und die Zauberformel sind notwendige Gegengewichte zur direkten Demokratie; die Neutralität und der Föderalismus schützen die sprachliche und kulturelle Vielfalt; die Eliteskepsis findet in der Subsidiarität und in der feinen Verteilung der Macht ihre institutionelle Stütze. Dies alles zusammen genommen hat gleichsam Stabilitätsreserven geschaffen, welche es der Schweiz bisher auch nach turbulenten Zeiten ermöglich haben, sich wieder zu stabilisieren.
Literatur
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Breuer, Stefan (1998): Der Staat. Entstehung, Typen, Organisationsstadien. Reinbeck bei Hamburg: Rowolt
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Durchhardt, Heinz (1999): "Westphalian System". Zur Problematik einer Denkfigur. In: Historische Zeitschrift 269, 305-315
Freiburghaus, Dieter (1995): Anmerkungen zum Schweizerischen Föderalismus. In: Bentele et al. (1995): 165-176
Freiburghaus, Dieter (2008): Geschlossene oder aufgeschlossene Gesellschaft? Schweizer Eliten. In: Müller-Jentsch (2008): 227-244
Freiburghaus, Dieter/ Buchli Felix (2003): Die Entwicklung des Föderalismus und der Föderalismusdiskussion in der Schweiz von 1874 bis 1964. In: Swiss Political Science Review 9, 29-56
Freiburghaus, Dieter (Hrsg.) (2002): Auf den Spuren des Föderalismus – in der Schweiz und in Europa. Bern: Haupt
Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffels (1943): Der abenteuerliche Simplicissimus. Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun. (Original 1686).
Kasper, Wolfgang (2008): Die Kultur des Wohlstands. Gregory Clarks Wirtschaftsgeschichte der Welt lehnt Almosen ab. In: Merkur 62, Heft 12. 1132-1138.
Luhmann, Niklas (2005): Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. 7. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
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Münger, Tamara (2002): "Die Schweizermacher" - oder wie aus Schwyzern Schweizer wurden. In: Freiburghaus (2002): 11-28
Sternberger, Dolf (1983): Das Wort "Politik" und der Begriff des Politischen. In: PVS 24. 7-14.