Der Volkswille muss umgesetzt werden!
Die Schweiz zeichnet sich durch einige besondere politische Institutionen aus, die, zusammengenommen, die Essenz dieses Staates ausmachen: Ausgeprägter Föderalismus, Gemeindeautonomie, direkte Demokratie, Kollegialregierung, Konkordanz, Milizsystem. Die meisten von ihnen werden regelmässiger Kritik unterzogen und geänderten Verhältnissen angepasst. Hat die Milizpolitik und -verwaltung noch eine Zukunft? Zerbricht die Konkordanz zwischen den Flügelparteien? Hat eine Kollegialregierung ohne Zauberformel Bestand? Können kleine Gemeinden überleben? Wie viel Finanzausgleich kann den wirtschaftlichen Zentren zugemutet werden? Doch eine Institution steht über der Kritik: Die direkte Demokratie. Wer nicht ihr Hohelied singt, wird an den Rand gedrängt. Einhellig tönt es nach jeder Abstimmung: „Das Volk hat gesprochen, sein Wille geschehe!“ Auch dann, wenn, wie am 9. Februar 2014, nur 18 Prozent der Einwohner Ja gesagt haben. Auch dann, wenn hinter diesem Ja die unterschiedlichsten Motive stehen. Auch dann, wenn der Verfassungstext völlig unklar bleibt. Und auch dann, wenn die Umsetzung das Völkerrecht verletzt. Die direkte Demokratie ist eine heilige Kuh, die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes. Amen.
Die meisten Schweizerinnen und Schweizer sind felsenfest davon überzeugt, dass ihre Form der Demokratie allen andern haushoch überlegen, ja recht eigentlich die einzig richtige ist. Was spielt es da für eine Rolle, dass das britische Unterhaus seit vierhundert Jahren ununterbrochen tagt und die Politik des Landes lenkt; wer mag noch daran erinnert werden, dass unser Parlament 1848 dem amerikanischen Kongress von 1787 nachgebildet wurde? Wen stört es, dass bisher kein anderer Staat solcherart Volksrechte auf nationaler Ebene eingeführt hat? Wir sind von dieser Superiorität so überzeugt, dass wir mit der direkten Demokratie hausieren gehen: Die EU soll daran genesen, deutschen Parlamentariern werden einschlägige Nachhilfestunden angeboten, und in Aarau wird ein eigenes Institut dafür unterhalten. Wir glauben, dass die andern Völker eigentlich unser System haben möchten und nur von ihren Eliten daran gehindert werden. Es kann nun sein, dass nach dem 9. Februar die Zuhörerschaft für die frohe Botschaft etwas geringer wird als bisher.
Jede politische Institution besteht aus zwei Komponenten: der Struktur, welche in gesetzliche Regeln gekleidet ist, und der „kulturellen Unterfütterung“ – Knochen und Fleisch. Die Struktur des Föderalismus ist in der Schweiz und Deutschland ähnlich, doch die Schweizer ergötzen sich an jedem Unterschied zwischen den Landesteilen, wogegen die Deutschen es uniform mögen. Die Konkordanz beruht, oder beruhte, auf einem starken Willen zum pragmatischen, alle einschliessenden Konsens oder Kompromiss; die Miliz funktioniert nur solange, als viele Bürgerinnen und Bürger bereit sind, staatliche Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Und so ist die direkte Demokratie nicht nur das, was darüber in der Verfassung steht, sondern sie funktioniert nur dann zum Wohle des Landes, wenn einige gesellschaftliche Bedingungen erfüllt sind.
Und da stellen sich nun seit längerem verschiedene Fragen. Sollten nicht längst die Mindestzahlen für Initiativen und Referenden der gewachsenen Bevölkerung angepasst werden? Ist es richtig, dass wegen des Ständemehrs immer weniger kleine Kantone über unser Schicksal bestimmen? Ist es sinnvoll, das Referendum noch und noch auszuweiten, etwa auch auf Staatsverträge? Und was machen wir im Falle eines Widerspruchs zwischen dem Abstimmungsresultat und dem Völkerrecht? Solche Fragen werden von der Wissenschaft seit langem gestellt, es werden Lösungsvorschläge diskutiert, doch die classe politique greift das Thema Diskussion nicht ernsthaft auf. Man will sich ja nicht unbeliebt machen!
In andern Ländern gibt es eine weit verbreitete Besorgnis, ob das Volk komplexe Fragen tatsächlich in ihrer ganzen Tragweite beurteilen kann. Woran liegt es nun aber, dass in der Schweiz die direkte Demokratie bis vor einigen Jahren kaum zu „schlechten“ Entscheiden geführt hat, zu solchen also, die dem Land nachhaltig Schaden zugefügt hätten? Und woran liegt es, dass wir dessen heute nicht mehr so sicher sein können? Zum kleineren Teil daran, dass die besser ausgebildeten Schichten in aller Regel fleissiger zur Urne gehen. Zum grösseren Teil aber daran, dass es ein Vertrauensverhältnis zwischen den politischen und den wirtschaftlichen Eliten einerseits und dem Volk andrerseits gab: Wenn der Bundesrat, das Parlament, die meisten Parteien, die Kantonsregierungen und die Wirtschaftsverbände ungefähr einer und derselben Ansicht waren, dann übernahm das Volk ihre Argumente. Immer. Man vertraute seinem Leibblatt, einem Bundesrat, der eigenen Gewerkschaft, einem politisch versierten Bekannten. Auf diese Weise wurde die Klugheit der Eliten zur Klugheit des Volkes.
Dieses Vertrauensverhältnis bröckelt sein einigen Jahren. Einschneidend ist der 9. Februar aber deshalb, weil hier drei Dingen zusammenkamen: Eine für die Schweiz existentielle Frage, eine umfangreiche Aufklärungskampagne und eine seltene Einmütigkeit aller politischen Kräfte bis auf eine. Wenn es dann schief läuft, dann ist Gefahr im Verzug. Man wird noch lange über die Ursachen rätseln und streiten. Der „Dichtestress“ war es offenbar nicht. Ein Denkzettel? Doch wofür genau? Die Menschen seien verunsichert durch Modernisierung und Globalisierung, diffuse Ängste trieben die Bevölkerung um. Das mag sein, aber doch nicht bei 50,3 Prozent! Nein, für den hier zutage getretenen Vertrauensverlust gibt es klarer identifizierbare Gründe: Eine seit Jahren anhaltende Diffamierungskampagne gegenüber allen, die noch bereit sind, in diesem Land Verantwortung zu übernehmen. Sie werden angeschwärzt, verdächtigt, lächerlich gemacht. Dem Bundesrat werden heimliche, an Landesverrat grenzende Absichten unterstellt. Jedes verwaltungsinterne Papier wird zum Geheimplan. Aus nichtigsten Gründen wird die Meute auf verdiente Politiker losgelassen. Wirtschaftsführer werden flächendeckend der Abzockerei verdächtigt. Professoren und sogenannte Experten sind abgehoben und verstehen die Sorgen des Volkes nicht. Jeder Versuch, schwierige Zusammenhänge zu erklären, wird mit Treichelgeläut zu Schweigen gebracht.
Aber Brandstifter werden erst dann gefährlich, wenn Biedermänner sie gewähren lassen. Selbst seriöse Medien lassen es zu, dass auf ihren Internetforen ein ständiger Fluss von Gift und Galle fliesst. Kaum jemand ist bereit, den Verleumdungen unseres Führungspersonals entschlossen entgegenzutreten. Auch bürgerliche Parteien flirten immer mal wieder mit der Ausländersündenbockthese. Über die EU können die aberwitzigsten Unterstellungen verbreitet werden, ohne dass ihnen widersprochen wird. Sehen wir denn nicht, dass der Keil, der zwischen die Eliten und das Volk getrieben wird, die direkte Demokratie zerstört? Wer jetzt dazu noch schweigt, erweist dem Land keinen Dienst.