erschienen in: NZZ vom 14. November 2015, S. 15 als Gastkommentar
Konkordanz ist mehr als nur eine Formel
Nach den Parlamentswahlen und vor der Bundesratswahl ist die Konkordanz einmal mehr zum Streitthema geworden: Geht es um die ungefähr proportionale Vertretung der Parteien im Bundesrat oder geht es um eine Regierung, deren Mitglieder in wichtigen Fragen ähnlicher Meinung sind? Unstrittig ist, dass Konkordanz die Einbindung der relevanten politischen Kräfte in den politischen Prozess und insbesondere in die Regierung beinhaltet. Diese schweizerische Besonderheit hängt eng mit den Volksrechten zusammen: Bei Referenden kann das Volksmehr nur gewonnen werden, wenn eine Vorlage breit abgestützt ist. Doch auch die Wahrung der föderalen Vielfalt und der Minderheitenschutz sind Stützen der Konkordanz. Zwar kommen auch mit knappen Mehrheiten gültige Entscheide zustande, doch würden sie die Regel, gefährdete dies den Zusammenhalt dieses Landes.
Die Konkordanz, wie wir sie heute verstehen, ist ein Kind der Krisen- und Kriegszeit des zwanzigsten Jahrhunderts. Davor gab es Mehrheitsregierungen bürgerlicher Parteien und eine linke und früher eine katholische Opposition. Nachdem jedoch die Angst vor den Nazis grösser geworden war als die vor den Kommunisten, und nachdem sie Sozialdemokraten dem Armeeausbau zustimmten, wurde 1943 erstmals einer von ihnen in den Bundesrat gewählt. Von 1954 bis 1959 blieben die Bürgerlichen wieder unter sich. Martin Rosenberg, der Generalsekretär der Christlichsozialen Volkspartei, fädelte 1959 die Wahl zweier Sozialdemokraten ein und schuf damit die bis 2003 gültige Zauberformel. 2003 gewann Christoph Blocher für die SVP einen zweiten Sitz zulasten der CVP. Damit verlor die CVP die Möglichkeit, abwechslungsweise mit der SP oder mit der FDP Mehrheiten zu bilden. Als Eveline Widmer-Schlumpf aus der SVP ausgeschlossen wurde, erhielt die „neue Mitte“ (CVP/BDP) diese Zünglein-an-der-Wage-Funktion zurück. Und nun, nach dem Sieg in den letzten Wahlen, verlangt die SVP gebieterisch den zweiten Sitz zurück. Die FDP unterstützt dieses Vorhaben vorbehaltlos, die Linke ist dagegen und die Mittelparteien lavieren.
Politik ist kein mechanisches System, und eine „mechanische“ Interpretation von Institutionen erklärt höchsten die Hälfte ihrer Tauglichkeit. Entscheidend ist ein politisch-kulturelles Milieu, welches die Institution trägt. Es besteht aus Werthaltungen, Überzeugungen und Traditionen, die eine Gesellschaft zusammenhalten. So gedeiht Föderalismus nur da, wo Menschen Verschiedenheit hoch schätzen, und Milizpolitik nur dort, wo sich Bürgerinnen und Bürger in genügender Zahl engagieren. So ist es auch mit der Konkordanz. Nicht zufällig ist sie in der Kriegs- und Krisenzeit entstanden, als das Land nur überleben konnte, indem (fast) alle Kräfte zusammenstanden: Friedensabkommen in der Metallindustrie, Landigeist, Ausbau der Armee, Plan Wahlen und so weiter. Am Ende des Krieges war die Schweiz geeinter denn je, und die Zauberformel war nur der konsequente Ausdruck dieser inhaltlichen Übereinstimmung. Erstaunlicherweise konnte diese Konkordanz während weiterer dreissig Jahre aufrecht erhalten werden: Die Neutralität war sakrosankt, eine starke Landesverteidigung selbstverständlich, der Schutz von Landwirtschaft und Gewerbe ebenfalls. Die Aussenwirtschaft wurde gefördert, doch ein Beitritt zur EWG abgelehnt. Die Zuwanderung billiger Arbeitskräfte aus dem Süden wurde soweit toleriert, als man glaubte, sie bürokratisch kontrollieren zu können. Die Sozialversicherungen wurden aus- und aufgebaut. Für diese Konstanz sorgten am Anfang die Angst vor dem Kommunismus und dann der wirtschaftliche Erfolg. Der Sonderfallmythos lieferte den ideologischen Überbau. Im Rahmen dieses Grundkonsens´ waren Kompromisse möglich, die meist hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wurden. Das Machtkartell funktionierte, und deswegen hatte die Zauberformel bestand.
Ab den siebziger Jahren begannen diese geteilten Auffassungen brüchig zu werden, doch noch für weitere zwei Jahrzehnte gelang es, die Risse zu übertünchen. Zum Fanal wurde die EWR-Abstimmung, als das mit Mühe zusammengezimmerte Kompromisspaket von Volk und Ständen verworfen wurde. Seither nehmen die Divergenzen überall: In der Europapolitik, bei der Zuwanderung, bei der Energiepolitik, dem Bankgeheimnis, der Armee, der Landwirtschaft, der Finanzierung der Sozialwerke. Weit und breit kaum mehr ein Thema, über welches man sich einig wird. Doch nicht nur materiell ist die Grundlage der Konkordanz erodiert: Polarisierung steht heute höher im Kurs als Kompromiss, mit extremen Positionen gewinnt man Stimmen, Vorlagen werden durch unheilige Allianzen gebodigt, der Stil verheisst Konfrontation. Es ist eine Illusion, durch Schräubeln an der Bundesratsformel die alte Konkordanz wieder herstellen zu können. Man wird das politische System an Haupt und Gliedern überholen müssen. Doch dazu sind wir nicht bereit, solange es noch Wohlstand produziert.